Die Hufe der beiden Kutschpferde donnerten über den Waldweg.
Kaius war es unerklärlich, wie sein Gegenüber bei diesem Geruckel die Ruhe hatte sich in sein Buch zu vertiefen.
"Wie lange fahren wir noch?"
Lorcan hob den Kopf, er schien sich nur widerwillig von den dicht beschriebenen Seiten zu lösen.
Er sah ihn nicht an, wie so oft kam es Kaius vor als würde Lorcan durch ihn hindurch starren - er erschauderte. Dieser durchdringende Blick seines Begleiters ließ ihm stets das Blut in den Adern gefrieren.
Lorcan richtete den Blick wieder auf sein Buch.
"Etwa eine dreiviertel Stunde, sofern uns in diesem Gewitter nicht die Pferde scheuen."Kaius lachte tonlos. In all den Jahren die er den Mann nun begleitete waren dessen Kutschpferde noch nie durchgegangen. Bisher hatten sie die Kutsche noch durch jegliche Unbequemlichkeiten sicher ans Ziel gebracht. Der Gedanke an den regungslos Tunnelblick der Zugtiere ließ ihn abermals erschaudern.
Die Tiere waren ihm nicht geheuer.
Zu starr, zu mechanisch waren ihre Bewegungen, wenn sie vor der Kutsche liefen, zu leer waren ihre Augen, wann immer sie eingespannt waren.Die Hufe der beiden Pferde donnerten im immer gleichen Takt auf den Waldboden, die Blitze, die über den Himmel zuckten erhellten die pechschwarzen Nacht für Sekunden und ließen die knochigen Äste der alten Bäume wie gierige Finger erscheinen, welche sich nach der Kutsche reckten. Gedankenverloren starrte Kaius hinaus in die Finsternis.
"Keine schöne Gegend zum Leben." merkte er an.
Lorcan grinste schief hinter den Buchseiten hervor. Seine braunen Augen funkelten belustigt.
"Zu dieser Jahreszeit erscheinen die meisten Ländereien trostlos und karg. Aber ich gebe zu, dieser Sumpf wirkt zu keiner Jahreszeit besonders einladend."
Kaius brummte zustimmend.
Gerade als er etwas erwidern wollte, schnellte Lorcans Blick alarmiert Richtung Fenster. Kaum eine Sekunde später hallte der Knall einer Peitsche durch die Nacht, im nächsten Moment löste sich ein Schuss. Kaius öffnete den Mund, doch Lorcan gab ihm mit einer harschen Handbewegung zu verstehen, dass er zu schweigen hatte; dann verdrehten sich die Augen seines Begleiters bis nur noch das weiß zu sehen war und wie weggetreten sank Lorcan in sie purpurnen Kissen der Kutsche.
Sekunden verstrichen, die sich wie Minuten anfühlten. Angestrengt versuchte Kaius etwas in diesem nächtlichen Gewitter zu erkennen, doch die Dunkelheit verschlang alles und jeden der sich zu Tief in diese menschenleeren Sümpfe wagte."Kaius?"
Er fuhr herum. Lorcan hatte die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt und das Kinn in seine Handflächen gebettet. Ein sanftes, fürsorgliches Lächeln zierte seine Lippen.
"Geht es dir gut?"
"Wieso sollte es mir nicht gut gehen?"
Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern, lächelte. Herrgott, wie Kaius dieses Lächeln hasste - Lorcan pflegte es stets dann aufzusetzen, wenn er etwas interessantes zu wissen schien, es jedoch nicht mit seinem Begleiter zu teilen gedachte. Missmutig wand Kaius den Blick wieder gen dunkle Nacht.
"Ich werde es dir später erzählen. Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen. Bevor wir ankommen, würde ich dich gerne noch über jene Individuen aufklären, die diesen Landstrich ihr zu Hause nennen und die uns zu dieser späten Stunde in den Mauern ihres Herrenhauses willkommen heißen werden."Kaius drehte sich wieder zu Lorcan, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände ineinander. Sein Gegenüber fuhr sich mit einer Hand durch das pechschwarze, zerwühlte Haar, ein halbherziger Versuch Ordnung in die widerspenstigen Strähnen zu bringen; wie immer war es vergebens. Während Lorcan dieser Umstand stets zu frustrieren pflegte, hatte Kaius es immer als interessanten Stilbruch betrachtet, war Lorcan doch immerzu um einen gepflegten, eleganten und makellosen Auftritt bemüht.
"Das Herrenhaus und die dazugehörigen Ländereien befinden sich bereits seit Generationen im Besitz ein und derselben Familie. Seit langen Jahren wird es nun von Bruder und Schwester verwaltet, einem Sammler des Kultes und einer Jägerin. Durch bedauernswerte Umstände wird es uns nicht mehr gegönnt sein den Vater der beiden und Vorgänger des Sammlers kennenzulernen, vor einem Jahrzehnt verwandelte dieser sich nach einem Angriff in einen niederen Vampir und terrorisierte die umliegenden Dörfer, sodass seine eigene Tochter sich schließlich dazu gezwungen sah ihn zu beseitigen. Ich sehe deinen Blick Kaius und nein, sie gehört nicht den Jägern der Kirche an, sondern wurde als solche geboren und ist dem Kult zudem treu.
Ihr Bruder ist, zu meiner Enttäuschung, weniger strukturiert und gewissenhaft in seiner Rolle als sein Vorgänger es war. Von ihm dürfen wir keine Hilfe erwarten, gut möglich das er den Geschehnissen bisher keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet hat. Für gewöhnlich verlässt er das Haus nicht, seine Schwester ist diejenige, die sich um die Anliegen der Bevölkerung zu sorgen pflegt. Von ihr dürfen wir uns einiges mehr an Informationen erhoffen, sie sollte zeitnah von der Jagd zurückkehren."Kaius hob die Augenbraue und verschränkte die Arme.
"Ich vermute nach dieser Aussage das sie die Urheberin des Schusses gewesen sein wird?"
Lorcan neigte den Kopf.
"Nein, da liegst du falsch. Nur das Knallen der Peitsche ist auf sie zurückzuführen gewesen. Der Schuss löste sich aus dem Gewehr eines anderen Jägers, auf den ich in diesen Gefilden nicht zu treffen vermutet hatte. Allerdings beschleicht mich eine gewisse Vorahnung, was ihn hierher verschlagen hat. Wir werden sehen, ob meine Vermutung sich bewahrheiten wird.
Aber zurück zum eigentlichen Thema. Der Sammler wird uns nicht allzu freundlich empfangen, er weiß was ich von ihm halte und da du mit mir reist wird er über deine Anwesenheit wohl genauso wenig erfreut sein wie über die Meinige. Bleibt nur zu hoffen das die Bibliothek, wenn er sie auch kaum erweitert haben wird, sich in einem solch prächtigen Zustand befindet, wie ich sie in Erinnerung habe."Aus dem Augenwinkel glaubte Kaius Schatten durch die undurchsichtige Bewaldung des Sumpfes hetzen zu sehen, an diesem unmenschlichen Ort vermischten sich Realität und Schein innerhalb von Sekunden und hinterließen ein Netz aus Verwirrung und Täuschung in der eigenen Wahrnehmung. Sein Gegenüber beugte sich vor, legte ihm eine Hand aufs Knie.
"Merk dir eines Kaius, an diesem Ort bist du nie so ungestört wie du denkst, nie so allein wie du es dir wünschst und nie so unbeobachtet wie es dir lieb wäre. Nicht nur die Nacht hat hier tausend Augen, sei wachsam bei jedem Schritt den du hier tust und glaube mir, nicht alles ist wie es auf den ersten Blick erscheint. Es hat seine Gründe, dass der Kult es für notwendig hält diesen Landstrich permanent von Jägern durchkämmen zu lassen, diese Sümpfe sind unberechenbar, unwegsam und unübersichtlich."
"Der Schatten dort draußen-" begann Kaius, Lorcan ließ ihn nicht aussprechen.
"Nur ein neugieriger, noch junger Wolf. Er ist allein, wird es also kaum wagen die Pferde anzugreifen. Spätestens wenn wir das Tor zum Herrenhaus passieren, wird er umkehren und die Dunkelheit der Nacht wird ihn wieder verschlingen."Oder irgendetwas anderes, was dort draußen in den Sümpfen lauert...
Lorcan nahm das Buch wieder auf, welches er zuvor gelesen hatte. Kaius deutete dies als Zeichen das sein Gegenüber ihm nichts mehr zu sagen hatte.
Die restliche Fahrt verbrachten sie in Stille.
Erst als die Pferde zunächst in einen zügigen Trab und schließlich in den Schritt fielen, ließ Lorcan das zerlesene Schriftstück sinken, schlug es vorsichtig in ein Stück Samt und verstaute es sorgsam in der Tasche zu seinen Füßen.
"Wir sind am Ziel." verkündete er, die Kutsche hielt.
Kaius erhob sich, stieß die Tür der Kutsche auf und stand mit einem Satz im strömenden Regen.Ein älterer Herr stand vor dem Herrenhaus, dessenaltes, steinernes Gemäuer sich bedrohlich vor Kaius in die nächtlicheDunkelheit empor zu recken schien.
Der Mann erwartete die beiden Gefährten am Fuße der halbrunden Treppe, derengroben, vom Regen verwaschenen Stufen zu einer schweren, hölzernen Flügeltürführten. Lorcan trat neben seinen Bruder und begrüßte den Mann, der schweigendan der Treppe verharrt hatte und nun aus seiner Versteinerung zu erwachenschien.
"Keinen Kutscher?" fragte er harsch, eilte zu den Pferden und machtesich dran sie auszuschirren. Dampf stieg von dem dunklen Fell der Pferde undverlor sich schnell im diesigen Nebel des Sumpfes.
"Nein." entgegnete Lorcan ebenso knapp. "Bitte sorgen sie sichum die beiden, sie sind lange und gut gelaufen."
Der alte Mann schnaubte, ob missmutig oder vor Wut vermochte Kaius nicht zuerkennen, doch es schien ihm nicht zu passen, dass die beiden Tiere die langeStrecke augenscheinlich ohne Pause gelaufen waren.
Neben ihm stützte Lorcan sich auf seinen Gehstock, Schulterte die lederneTasche. Kaius fragte sich wie schwer sie wohl sein mochte, hatte er doch in derKutsche einen kurzen Blick auf den Inhalt erhaschen können; ein GroßteilLorcans Gepäck schien aus Büchern zu bestehen. Kaius erschloss sich dieNotwendigkeit dahinter nicht, schließlich schien das Herrenhaus, laut dereigenen Aussage seines Gefährten, über eine gut gefüllte Bibliothek zu verfügen.
Das metallene Ende des Gehstocks erzeugte ein dumpfes Geräusch, als Lorcan sichdaran machte die steinernen Stufen emporzusteigen und Kaius eilte sich seinemBegleiter zu folgen.

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Schattengruß
Mystery / ThrillerFrankreich, 1763. Eine Reihe grausamer Morde erschüttert die kleine Gemeinde Balazuc im Süden des Landes. Lautlos, unsichtbar und unbemerkt bewegt sich der Mörder unter den Bewohnern, seine Opfer - Kinder, Frauen und Männer, grausam entstellt, in de...