Ch2: Miriam

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Die Rückfahrt verlief größtenteils in einvernehmlichem Schweigen.
Nico hatte den Polizisten und Sanitätern vor Ort irgendeine Ausrede aufgetischt, die plausibel genug war, damit sie uns nicht zu lange befragt hatten. Das Blut auf dem Boden hatte natürlich Fragen aufgeworfen, aber auch da hatte er irgendeine Ausrede parat gehabt, die nur für Stirnrunzeln gesorgt hatte. Währenddessen hatte man mir in einem der Rettungswägen das Blut abgewischt und die Hände desinfiziert. Ich wurde mehrmals von dem älteren Sanitäter gefragt, ob es mir gut ginge, konnte allerdings nie mehr als ein Nicken zustande bringen. Was sollte ich schon sagen? Dass ich möglicherweise meinen ehemaligen Schutzengel und gleichzeitig meine erste Liebe gerade für immer verloren hatte?
Anscheinend hatte ich fertig genug ausgesehen, damit man mich als erste aus dem Kreuzverhör vor Ort entlassen hatte. Während ich in Nicos Wagen wartete, lief die Standheizung leise im Hintergrund und machte es mir nur allzu einfach, in Gedanken abzudriften.
Der Seitenspiegel zeigte eine Person, die mir fremd war. Ein Mädchen mit leblosen Augen. Eine Person, die gerade nur noch lebte, weil ihre Organe es irgendwie schafften, weiterzumachen. Meine Wangen fühlten sich verklebt an, doch ich machte mir nicht die Mühe, meine vertrockneten Tränenspuren wegzuwischen. Es würde mich zu viel Kraft kosten, jetzt die Hand zu heben.
Ich konnte nicht mehr weinen. Meine Augen waren trocken und schmerzten und selbst, wenn ich weinen wollte, würde keine einzige Träne herauskommen. Es ging nicht mehr, ich schaffte es nicht. Ich konnte nicht einmal mehr um die Person weinen, die nun nicht mehr auf der Erde war. Was für eine Art Mensch machte das aus mir?
Irgendwann – vielleicht nach ein paar Minuten, vielleicht aber auch nach ein paar Stunden – war Nico zu seinem Wagen zurückgekehrt und eingestiegen. Er sagte kein Wort, aber ich konnte seine Sorge um mich spüren, auch wenn er mich nicht anblickte. Wir sahen beide geradeaus, als er den Motor startete und den Audi langsam über den hügeligen Boden auf die Straße lenkte. Eigentlich wollte ich nicht fahren und somit die Stelle verlassen, wo Nolan gelegen war, aber mit den Beamten vor Ort hatten wir keine Wahl gehabt. Die Blaulichter verschwanden hinter den Bäumen und wir waren umgeben von der Idylle des beginnenden Tages und den leisen Geräuschen des Motors.

Im Endeffekt fuhren wir genauso zurück, wie wir hergefahren sind – die Person, wegen der wir hergekommen waren, schwebte im besten Fall nun in Lebensgefahr. Wenn er nicht bereits längst tot ist.
Ich schluckte schwer und warf einen Blick in den Rückspiegel. Ethans Range Rover fuhr die ganze Zeit über hinter uns und machte keine Anstalten, zu uns aufzuholen, obwohl wir quälend langsam durch die Landschaft rollten. Doch selbst aus der Entfernung konnte ich den verkniffenen Zug in seinem Gesicht erkennen sowie Valerie auf dem Beifahrersitz, die sich noch immer nicht von ihrem hysterischem Tränenanfall erholt hatte.
„Du musst meinetwegen nicht Schweigen." Ich erkannte meine eigene Stimme kaum wieder. Sie war unfassbar dünn und zerbrechlich, als könnte der leiseste Laut sie übertönen. Ich spürte Schmerzen beim Sprechen, als meine Stimmbänder vibrierten, doch nicht zu reden machte mich zu einer Zielscheibe meiner Gedanken.
Nico schaute kurz in meine Richtung, ehe er sich wieder auf die Straße konzentrierte. „Ich schweige nicht deinetwegen, Sonnenschein", gab er mit einem kraftlosen Lächeln leise zurück, doch der feste Griff, mit dem er das Lenkrad festhielt, sagte etwas vollkommen anderes. „Ich schweige, weil ich für das, was passiert ist, einfach keine Worte habe."
Vorsichtig rollte ich das Haargummi von meinem Handgelenk, das ich für den Fall der Fälle bei mir trug, und strich mir meine Haare zurück, um sie zusammenzubinden. Ein paar meiner Strähnen waren blutverkrustet und ich wollte sie weder sehen noch auf meinem Gesicht spüren. Als ich mit meinen Fingerspitzen meine Wange streifte, hielt ich überrascht inne. Meine Hände waren so kalt, dass es fast schon wehtat, mich selbst zu berühren. Sie waren ein Ausdruck meines inneren Zustandes, auch wenn sie noch weit davon entfernt waren, der Kälte gerecht zu werden, die ich fühlte.

„Ich habe alles ruiniert", flüsterte ich und ließ meinen gegen die Scheibe sinken. Ich sah zu, wie sie bei jedem Atemzug anlief und anschließend wieder klar wurde. Es war ein Vorgang, der sich alle zwei Sekunden wiederholte und seltsam beruhigend war.
„Du hast dein Bestes gegeben, um für dich und Nolan zu kämpfen", erwiderte Nico und verließ endlich den holprigen Waldweg, um auf die Landstraße Richtung St. Hillaire zurückzufahren. Der Motor heulte kurz auf, als der Audi beschleunigte, aber dann war er auch schon wieder leise.
Ich schaute zu den Bäumen, die an uns vorbeizogen und biss mir auf die Unterlippe. Mein Verlangen zu weinen war nach wie vor erschöpft, aber in mir krampfte sich alles ungut zusammen. Als würde mein Körper versuchen, Tränen aus mir herauszupressen, die ich nicht mehr hatte.
„Die Engel hatten recht, als sie gesagt haben, dass das Beste, was ein Mensch aufbringt, nicht für eine große Sache wie diese hier reicht. Sie spielen in einer ganz anderen Liga als wir. Wie habe ich je denken können, dass ich da mitmachen kann?" Meine Naivität im Nachhinein zu betrachten ließ mich gleich noch um einiger dümmer und ignoranter fühlen. Ich lebte kein Märchen, in dem Wunder aufgrund der Kraft von Freundschaft und Liebe wahr wurden. Das war die knallharte Realität, in der der Stärkere an der Macht war. Als einfaches Menschenmädchen hatte ich von Anfang an nichts sagen können und das war mir erst aufgefallen, als es bereits viel zu spät war.
„Blödsinn!", stieß mein bester Freund aus und holte mich damit wieder in die Gegenwart zurück. Er schlug auf das Lenkrad und das Hupen ließ uns beide zusammenzucken. Eine Weile saßen wir beide kerzengerade im Wagen, bis hinter uns ebenfalls ein Hupen ertönte. Im Rückspiegel betätigte Ethan die Lichthupe, was meine Mundwinkel schwach zum Zucken brachte. Sein Zeichen, dass er noch immer hinter uns war und wir nicht alleine waren, war genau das, was ich in dem Moment gebraucht hatte.

Protect us (III)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt