Ch8: Miriam

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Einen Erzengel als Gast im eigenen Wohnzimmer sitzen zu haben gehörte zu den Erfahrungen, die ich nicht machen wollte. Von Nolans Erzählungen wusste ich, dass der Hohe Rat über zwei als Mitglieder verfügte und sie eine nicht gerade angenehme Gesellschaft waren. Erst Gabriel hatte er es zu verdanken, dass er zwangsläufig ein vollkommener Engel geworden war und somit nicht länger das Recht hatte, nach Lust und Laune auf der Erde zu verweilen. Er hatte mehrmals betont, dass Gabriel mit seiner perfekten, stoischen Art die Inkarnation eines Engel darstellte, wie wir Menschen ihn uns vorstellten. Meine Ansicht von Engeln hatte sich seit Nolan in mein Leben gekommen war von Grund auf geändert, aber ich konnte mir in etwa vorstellen, wie Gabriel war. Über Raphael hatte er nicht viele Worte verloren, doch das musste nichts Gutes verheißen, weswegen ich seit der Sekunde seines Auftauchens misstrauisch war. Gleichzeitig brodelte eine schwer zähmbare Neugierde in mir, die darauf hoffte, gute Neuigkeiten zu hören. Es brannte mir auf der Zunge, ihn nach Nolan zu fragen, da er sicherlich über dessen Verfassung Bescheid wusste, aber meine Angst hielt mich davon ab. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen würde, sollte ich hören, dass er es nicht geschafft hatte, den Angriff zu überleben.

„Also ist es kein Mythos, dass es euch Erzengel gibt?" Valerie beugte sich erst neugierig nach vor, lehnte sich dann mit einem lauten Pfeifen zurück und schüttelte den Kopf. „Und ich habe immer gedacht, dass sich diese Namen bloß irgendjemand ausgedacht hat."
Zu viert saßen wir schon eine ganze Weile im Wohnzimmer. Raphael hatte an einem Ende der Couch Platz genommen, Valerie, Nico und ich am anderen, wobei wir darauf geachtet hatten, dass mindestens ein Meter Abstand zwischen uns war. Zwar würde uns dieser nicht schützen, aber er täuschte wenigstens ein Gefühl der Sicherheit vor. Von Jamie fehlte jede Spur und ich vermutete, dass sie gerade bei Daemon oder auf dem Weg zu ihm war. Wenn sie nur wüsste, was sie verpasste.
Seit unserer Rückkehr hatten meine Freunde ihn abwechselnd mit Fragen gelöchert, die er recht kurz angebunden, wenn auch brav beantwortete. Beim Reden strahlte er eine ansteckende Ruhe aus, die über mich in Form kühler Wellen hinwegschwappte. Seine milchig blauen Augen wanderten dabei gelegentlich durch das Wohnzimmer und kamen dann immer zu uns zurück. Jedes Mal, wenn er mich anschaute, bekam ich eine Gänsehaut. Sein Blick wirkte unreal, irgendwie weit entfernt und doch ausdrucksstark. Es war schwer zu beschreiben, aber der Einfachheit halber würde ich ihn einfach als übermenschlich betiteln, was wohl in vielen Fällen zutreffend war.
„Ich bin der Raphael aus der Bibel", bestätigte er und riss mich aus meinen Gedanken. Wenn eine Stille zwischen Frage und Antwort eintrat, konnte man das leise Ticken der Wanduhr hören, die sich regelrecht hypnotisch auf meine Konzentration auswirkte und mich nun bereits zum zweiten Mal abdriften ließ. „Und nein, es ist kein Mythos, sondern die Wahrheit. Die ersten, zur Auffassung fähigen Menschen behielten uns in Erinnerung, als wir auf der Erde wandelten, und zeichneten ihre Erlebnisse nieder. Doch nach tausenden von Jahren waren die Bilder von uns und die Geschichten, die man sich erzählte, immer unglaubwürdiger geworden und irgendwann waren sie zu Mythen geworden."
„Gabriel kennen wir schon aus Nolans Erzählungen", sagte Val und wippte aufgeregte auf der Couchkante auf und ab. „aber was ist mit den anderen Erzengeln?"
Raphael legte den Kopf schief. „Michael hat seinen Platz im Rat vor vielen Sommersonnenwenden aufgegeben und lebt zurückgezogen. Von Uriel habe ich schon länger nichts mehr gehört, aber er hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Zuwachs im Himmel zu protokollieren."
„Und die anderen?", hakte meine Freundin beharrlich nach. „Wenn ich mich an den Religionsunterricht in der Grundschule recht erinnere, gibt es mehr als nur vier Erzengel. Was ist mit Raguel? Oder Remiel?"
„Ein Erzengel zu sein bedeutet nicht, dass man bekannt ist. Auf der Erde mögen sie von Bedeutung sein, aber im Himmel haben es viele der älteren Engel vorgezogen, allein und unerkannt zu leben. Tatsächlich weiß ich nicht, wo die restlichen Erzengel gerade sind oder was sie machen. Aufgrund ihrer Geschichte hätte jeder von ihnen das Anrecht auf einen Platz im Hohen Rat, aber den haben sie alle abgelehnt. Nur Gabriel und ich haben uns der Aufgabe angenommen, über den Himmel zu wachen." Nach der unerwartet langen Erklärung holte Raphael leise Luft. Seine Körperspannung entwich ihm und er lehnte sich gegen die Rückenlehne.

Protect us (III)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt