72| Die Königin

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Mit gesenktem Haupt und vor dem Schoß gefalteten Händen kniete ich auf den Stufen vor dem Thron. Die Halle war erfüllt von Stille, ich hörte nur meinen eigenen, schnellen Herzschlag und das leise Rauschen des Meeres durch die geöffneten Tore. Vor mir stand Círdan in einer langen, grauen Robe und hielt eine zierliche, mit blauen Edelsteinen besetzte, silberne Tiara in den Händen. Die Krone meines Vaters. Vom Schlachtfeld am Morannon vor über 3000 Jahren geborgen, aufwendig restauriert und sicher aufbewahrt, bis ich bereit für sie war. Oder es zumindest hoffte zu sein.

Draußen vor den Toren der Halle standen die Elben der Grauen Anfurten versammelt. Mein Volk, das erwartungsvoll mit mir als Herrscherin in die Zukunft sah. Obwohl sie mich noch nicht lange kannten, vertrauten sie mir und akzeptierten meine lange Abwesenheit. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, ob ich mir selbst verziehen hätte, wäre ich an ihrer Stelle, doch sie taten es. Und sie gaben mir das Gefühl, dass es in Ordnung war, sich Zeit zu nehmen. Der Schleier der Trauer und des Schwindens, der über den Noldor gelegen hatte, war gelichtet. Nicht verschwunden, das würde er nie mehr, doch die Elben sahen wieder Hoffnung in ihren Leben und dem Land, das sie vor etlichen Jahrtausenden entgegen dem Willen der Götter als ihre Heimat gewählt hatten. Der Gedanke, dass ich einer der Gründe für diese neue Hoffnung war, machte mich unendlich stolz und ließ mich Kraft und Mut schöpfen für das, was mir noch bevorstand.

„Elben der Anfurten." Círdans Stimme hallte an den Wänden des Saals wieder und klang hell wie der Morgen und melodisch wie das Rauschen des Meeres zugleich. „Gäste aus dem fernen Waldlandreich, Bruchtal und Lothlórien, Freunde aller Rassen und Länder. Am heutigen Tage wird eine neue Ära in der Geschichte des Volkes der Noldor angeklungen."

Ich hob leicht den Kopf und sah zu Círdan hinauf. Er sah mit erhobenem Kinn auf die Versammelten in der Halle herab und hielt die Tiara vor der Brust. Obwohl er kein Noldo war, sondern den Teleri angehörte, vollzog er als ältester Anwesender und enger Vertrauter meines Vaters die Zeremonie. Ich wusste, dass es ihm viel bedeutete, denn er hatte schon immer in stetigem Kontakt mit meinem Volk gestanden, mit ihnen diese Stadt aufgebaut und sogar Gil-Galad gekrönt.

„Feaglin, Tochter des strahlenden Gil-Galad, Enkelin des gerechten Fingon und Urenkelin von Fingolfin, dem Mutigen, direkte Abstammende Finwes. Durch Gefahren und Hindernisse gegangen, um heute den Segen der Hohen Könige zu empfangen." Er hob die Tiara in die Höhe und es schien mir, als würde das Licht in der Halle etwas heller werden. „Wirst du, Feaglin Gil-Galadiel, deinem Volk dienen und deine Würde als Herrscherin gerecht und vorausblickend einsetzen?"

„Ja, das werde ich", sagte ich mit lauter, klarer Stimme. Auf Círdans Lippen zuckte ein kaum merkliches Lächeln und er sah kurz zu mir herab.

„So kröne ich dich mit der Kraft der Valar und dem Segen der Noldor zur Hohen Königin deines Volkes." Langsam senkte er die Tiara auf mein Haupt. Ich schloss die Augen, als das Metall meinen Kopf berührte, Círdan die Hände zurückzog und lautes Jubeln und Klatschen den Saal füllte.
Mit einem letzten tiefen Atemzug stand ich auf, sah kurz zu dem grauhaarigen und würdevoll lächelnden Elb vor mir und drehte mich um.

An den Seiten der Halle, zwischen den Säulen und im Spalier um den breiten, dunkelblau verzierten Teppich, der vom Thron bis zu den Toren führte, hatten sich Elben versammelt. Die Gäste aus dem Düsterwald, die hochrangigen Angehörigen meines Volkes, die die letzten Provinzen im Umland der Anfurten verwalteten, und die Adligen der Stadt. Ganz vorn standen Galadriel, Elrond, Glorfindel, Gandalf, Legolas und Gimli. Ich musste schmunzeln, als ich den Zwerg zwischen all den Elben stehen sah, der nichts von dem verstand, was wir sagten, und trotzdem wirkte, als gäbe es für ihn nichts Natürlicheres auf dieser Welt. Er begegnete meinem Blick und pfiff laut durch die Zähne, was mir ein leises Lachen entlockte. Mein Herz schlug trotzdem bis zum Hals, als das Jubeln leiser wurde und alle erwartungsvoll zu mir blickten. Ich hatte mich auf diesen Augenblick vorbereitet und eine Rede geschrieben, doch im Moment war mein Kopf leergefegt. Keines der Worte, die ich mir im Vorfeld überlegt hatte, erschien passend und angemessen für das, was passiert war und passieren wird.

„Noldor und Sindar. Teleri, Zwerge und Zauberer", begann ich mit klarer Stimme, ohne wirklich zu wissen, wo ich diese Worte hernahm. Ich legte die linke Hand auf Ringils Schwertknauf an meinem Gürtel, strich mit den Fingern über das weiche Leder und reckte das Kinn in die Höhe. Plötzlich spürte ich nicht mehr die Schwere des Umhangs und des Kleides, die Kälte des Schwertes und Vilyas. Ich sah nur noch die freudigen Gesichter meines Volkes vor mir, fühlte die sachte Brise des Windes, der durch die Tore in die Halle geweht kam, und wusste, dass ich im Moment genau dort war, wo ich sein sollte. "Eine lange Zeit voller Verlust, Aufopferung und Hoffnungslosigkeit liegt hinter uns. Das Schicksal der Elben, das seit dem Auszug unseres Volkes aus dem unsterblichen Land mit dem Bösen verwoben ist, ist nun befreit von allen Bürden. Sauron, der letzte Diener Morgoths ist Geschichte. In einem Krieg besiegt, den nicht nur eine Rasse Mittelerdes geschlagen hat. Jedes Wesen, ob groß, klein, alt oder jung, leistete seinen Beitrag, die dunklen Mächte dieser Welt auf ewig zu bannen und ein neues Zeitalter des Friedens anzuklingen. Wir haben Feindseligkeiten beigelegt, Unterschiede überwunden und am Ende zu dem gefunden, das uns alle miteinander verbindet. Dem Wunsch nach Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Freiheit. Heute stehe ich hier und schaue nicht nur auf die Noldor, sondern auf Angehörige verschiedener Völker, die in Zukunft vereint in Frieden miteinander leben werden. Die Zeiten der Kriege und Schlachten sind vorbei, und ich verspreche, alles in meiner Macht Stehende einzusetzen, um dies zu wahren. Ob hier in Mittelerde, in Valinor oder wo immer es die Elben hinzieht. Unsere Rasse ist eins, trotzdem wir in der Vergangenheit verschiedene Pfade eingeschlagen und andere Herrscher hatten. Lasset uns alle Feindseligkeiten niederlegen und vorausschauen in die strahlendste aller Zukunften, und sie feiern. Lasset uns die Grauen Anfurten zu einem Ort machen, der nicht nur für einige ein Zuhause und Ort der Zuflucht ist, sondern für jeden. Auf die Freiheit!"  In einer fließenden Bewegung zog ich Ringil aus der Schwertscheide und streckte es in die Höhe. Die Menge in und vor der Halle brach in lautes Jubeln und Beifall aus. Als ich meinen Blick über die Elben schweifen ließ, fiel mir plötzlich auf, dass meine Sicht leicht glasig wurde und meine Hände zu zittern begannen. Doch ich ließ das Schwert nicht sinken und schaute weiterhin mit Tränen in den Augen auf mein Volk, das mich empfing, als wäre ich nie weg gewesen. Sie hatten mir verziehen. Genauso wie ich mir selbst auch.

I rîn - Die KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt