Mit zusammengezogenen Brauen starrte ich auf die Klausur vor mir.
Wer wusste das alles schon? Ich wahrscheinlich, wenn ich nicht die letzten zwei Wochen damit beschäftigt gewesen wäre, meine Zeit mit Vincent zu verbringen. Ich verdrehte die Augen. Mein schlechtes Gewissen hatte sich eingeschaltet.
Zwar hatte ich die Prüfung im Fach forensische Biologie gestern ganz gut gemeistert, dafür war meine Recht I Klausur jetzt kaum zu bewältigen. Vincent hatte mich abgefragt und mir genug Zeit gegeben, um für meine Klausuren zu lernen, doch aus reiner Naivität, dass ich das ja schon wuppen würde, hatte ich definitiv zu wenig Zeit in meine Vorbereitung gesteckt. Das einzig Positive daran war, dass mir schien, dass auch die anderen genauso vor den fiesen Fragen meiner Dozentin brüteten. Misses Johnson war schon immer berüchtigt, die schwersten Klausuren zu stellen. Kein Wunder, dass auch die Durchfallquote immer über sechzig Prozent lag.
Meine Augen wanderten zur großen Uhr über der Tür. Wie gerne ich jetzt durch sie hindurch spazieren würde, mit einem guten Gefühl. Allerdings musste ich meine Gehirnzellen dazu zwingen, sich für die letzten zehn Minuten nochmal so richtig ins Zeug zu legen. Mir fehlten noch drei Fragen, die ich zu beantworten hatte. Unter die restlichen hatte ich bereits meine Antworten gekritzelt. Man sah sofort, bei welchen Aufgaben ich mir unsicher war, oder noch schlimmer, ich einfach geraten hatte, denn dort war meine Schrift ganz schön unordentlich hingeschmiert. Einzig und allein mein Name stand feinsäuberlich auf jedem Bogen Papier.
Ich kaute auf meinem Stift herum. Nur noch neun Minuten.
Wie überprüfte man, ob ein DNA-Test gefälscht war?
Ungerührt kritzelte ich eine Antwort aufs Blatt. Noch acht Minuten.
Wie verändert sich der Strafrahmen für Mord, wenn der Angeklagte dem Mörder Hilfe geleistet hat?
Hierzu fiel mir gar nichts zu ein. Meine Aufmerksamkeit lenkte sich auf Linda, die neben mir saß und mit einem leisen Seufzen ihre Blätter zusammenlegte. Sie warf mir einen gequälten Blick zu, den ich mit einer ähnlichen Grimasse erwiderte. Das strenge Räuspern von Misses Johnson ließ mich jedoch schnell wieder auf mein Blatt schauen. Jetzt hatte ich nur noch sieben Minuten, nein, stopp, sechs Minuten.
Wieder las ich die Frage vor mir. Noch immer hatte ich keinen blassen Schimmer. Auf gut Glück kreuzte ich eine vorgegebene Antwortmöglichkeit an. Jetzt hatte ich noch fünf Minuten für die letzte Frage.
Wie ist die Rechtslage, wenn der Angeklagte bereits zweimal wegen Trunkenheit im Straßenverkehr zu einer Geldstrafe verurteilt wurde und er jetzt keine Ausfallerscheinungen zeigt?
Ehrlich, keine Ahnung. Ich schloss meine Augen und versuchte stark, mich zu konzentrieren. Mir kam die Frage bekannt vor. Ich war mir sogar sicher, dass ich mir das Thema kurz vor der Klausur noch angeschaut hatte.
»Die letzte Minute läuft.« Ich öffnete entnervt die Augen und sah Misses Johnson, die uns finster entgegenblickte. Kurz huschte mein Blick zur Uhr. Mein Herz beschleunigte die Geschwindigkeit, als ich meine Lösungsworte in den letzten verbleibenden Sekunden zügig aufschrieb, die vor meinem geistigen Auge doch noch aufgetaucht waren. Keinesfalls war ich mir zu hundert Prozent sicher, aber irgendwas davon brachte mir sicherlich ein paar Extrapunkte ein.
~
Dass ich mich gerädert fühlte, war die reinste Untertreibung. Ich war nur froh, dass ich die Klausur hinter mich gebracht hatte und wieder frische Luft in meine Lungen lassen konnte. Drei Stunden vor einer Arbeit brüten, war wirklich die reinste Strafe.
Ich war froh, dass mich heute wieder Vincent abholen würde. Sobald er da war, hätte ich den Stress der letzten Stunden sicherlich schnell wieder vergessen. Er hatte mir nämlich versprochen, dass wir heute an die Küste fahren und dort die Sonne genießen würden. Nachdem wir am Wochenende auf der Kirmes in unserer Stadt Riesenrad gefahren waren, freute ich mich richtig auf einen entspannten Tag, ganz allein mit Vincent. Und auch, weil die Klausur heute die letzte für das Semester gewesen war.
Ich blinzelte in die helle Sonne. Mit schlappen Gliedern ließ ich mich auf den Bordstein nieder. Ich stützte meinen Kopf mit meinen Händen ab und schloss die Augen. Ich wusste, dass Vincent heute etwas später kam, um mich abzuholen, also konnte ich die Zeit nutzen und ein wenig träumen. Dass ich dabei wie ein Honigkuchenpferd grinste, war mir egal. Ich schwebte auf Wolke sieben und jeder, der mir das nicht gönnte, war vermutlich nur neidisch oder hatte einen schlechten Tag.
Meine Gedanken schweiften unweigerlich zu letztem Wochenende ab. Vincent war es tatsächlich gelungen, mich zu überzeugen mit ihm zusammen Riesenrad zu fahren, obwohl ich panische Höhenangst bekam, sobald ich nicht mehr mit beiden Füßen fest auf dem Boden stand. Dass er mich fest an sich gedrückt und erst locker gelassen hatte, als wir ganz oben waren, damit ich den wunderschönen Sonnenuntergang genießen konnte, hatte mich diesen Ritt allerdings überstehen lassen. Okay, okay, es war in Wirklichkeit unfassbar gewesen, auch wenn ich tausend Tode gestorben war.
Mein Handy klingelte.
Enttäuscht über den abrupten Stopp innerhalb meiner Gedankenwelt, öffnete ich wieder meine Augen. Die Sonne schien mir nur noch greller entgegen und ich musste mir die Hand als Schutz über die Lider halten. Währenddessen kramte ich mein Handy hervor. Die Klänge meines Klingeltons wurden immer lauter, als ich es nicht sofort aus meinem Rucksack gekramt bekam. Ich seufzte genervt auf, als die Melodie genau in dem Moment ausging, als ich mein Handy in die Hände bekam.
Auf dem Display sah ich Vincents Namen. Sofort stieg meine Laune. Mit flinken Fingern wählte ich seine Nummer und hielt mir den Hörer ans Ohr. Es tutete einen Moment, bevor ich hörte, wie mein Anruf entgegengenommen wurde. Vor Aufregung hüpfte mein Herz.
»Hey, Vince. Warum rufst du an? Kommst du doch noch etwas später?« Ich hielt in freudiger Erregung endlich seine Stimme wieder zu hören, die Luft an.
»Ja, Vince verspätet sich heute tatsächlich, aber wenn du ihn sehen willst, kannst du gerne zu uns kommen.«
P.S.: Für alle, die es vergessen und sich gefragt haben, was das für krasse Klausurfragen sind; Fanny studiert Forensik. Und für alle, die es weiterhin interessiert - ja das sind wahrhaftige Klausurfragen, wenn man in Deutschland dieses Fach studiert ... bleibt flauschig! : )
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Little Miss Bodyguard | ✓
RomanceWäre es nicht wunderbar die Zauberkraft besitzen zu können, hinter die Maske eines jeden Menschen schauen und genau abwägen zu können, was sich dort verbirgt? In Fannys Fall definitiv, denn dann wären weniger Herzen gebrochen, weniger Tränen vergoss...