⚔ Delila ⚔

46 7 1
                                    

Nach einem Konzept von The_Latte_Owl 🦉
Danke, dass ich zur Umsetzung Beitrag durfte.

Garlan hatte einen guten Blick auf das schreckliche Schauspiel, das sich in den Straßen Kawits seit mehreren Tagen ereignete. Er war noch sehr jung, keine fünf Jahre alt, und wusste nicht um Politik und Ehre, die einzigen beiden Dinge, die den Menschen noch etwas bedeuteten. Er presste sein winziges Gesicht gegen das Fenster und beobachtete die vielen Männer, die mit Schwertern auf andere Männer einstachen - und umgekehrt. Die staubigen Straßen der Hauptstadt waren voller Blut, ein Rinnsal, das langsam zu einem Bach und dann zu einem Fluss wurde. Er verstand nicht, warum sie taten, was sie taten.

Erneut kam Delila in das kleine schäbige Zimmer, in dem nur für ein Bett Platz war und schlang ihre Arme um seinen Kinderkörper, um ihn wieder vom Fenster wegzuziehen. Er wehrte sich mit Händen und Füßen und brüllte so laut er konnte: »Ich will es sehen! Lass mich los, lass mich los!« Aber sie hörte nicht auf ihn, das tat niemand. Er war doch nur ein Kind. Er hasste es, dass nie jemand ernst nahm, was er zu sagen hatte.

»Garlan, nein«, flüsterte sie in seine Haare, während er sich zitternd an sie presste und lautlos schluchzte. »Das ist nichts, was du mitansehen solltest. Das zerstört dich sonst von innen heraus und du hast eine große Zukunft vor dir.«

Sie wusste nicht, ob das stimmte. Sie wusste mittlerweile gar nichts mehr. Das Einzige, das noch eine Rolle spielte, war ihr kleiner Bruder, der eine Art krankhafte Faszination darin fand, die Gräueltaten zu betrachten, die direkt vor ihren Fenstern verübt wurden. Und ein junger Mensch sollte solchen Einflüssen nicht ausgesetzt sein.

Dabei vergaß sie völlig, dass sie keine sechs Jahre älter war und den gleichen Bildern ausgesetzt war. Sie fuhr Garlan durch sein kräftiges braunes Haar und streichelte sanft über seinen Kopf, während er sich allmählich wieder beruhigte. Er würde in dieser Nacht dennoch nicht schlafen können, genau wie Delila.

Schließlich schälte Garlan sich aus ihrer Umklammerung. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass nicht sie ihn hielt, sondern er sie. Er war für sein Alter schon äußerst mutig, was ihr große Sorgen bereitete. Die Mutigen starben heutzutage zuerst in den Straßen Kawits. Er sah aus seinen großen und klaren blauen Augen zu ihr auf und es brach ihr das Herz, als er sagte: »Weine nicht. Ich werde dich beschützen.« Er klang dabei so ernst und überzeugt, dass sie ihm gerne geglaubt hätte. Aber er war doch nur ein kleines Kind.

Delila lächelte ihm zu: »Ja, Garlan, ich weiß. Du bist mein Beschützer. Aber du musst noch ein bisschen wachsen, weißt du? Außerdem-«

Garlan würde niemals erfahren, was seine große Schwester außerdem hatte sagen wollen, denn in diesem Augenblick brach jemand bei ihnen ein. Sie konnten das Splittern des Holzes hören, als die Tür aus ihren Verankerungen gerissen wurde und auf den Boden knallte.

Delilas Augen weiteten sich vor panischer Angst. Laute und schwere Schritte kamen näher. Jemand brüllte etwas auf einer Sprache, die die beiden Kinder nicht verstanden, doch es klang nicht wie etwas, das man hören wollte. Sie waren verloren.

Aber Delila hatte andere Pläne.

Sie packte Garlan und drückte ihn in einen leeren Schrank hinein. Er zappelte wie wild, weil er sie nicht allein lassen wollte und drinnen nicht genug Platz für beide war. Sie sah ihn unter Tränen an, sie kullerten über ihre Wangen und tropften unaufhaltsam auf den staubigen Holzboden. »Bitte«, presste sie hervor. »Wenn du mich lieb hast, Garlan, dann bist du still. Du bist so lange still, bis du dir sicher bist, dass niemand mehr da ist. Und selbst dann, Garlan, selbst dann bleibst du noch mindestens eine Stunde versteckt. Hast du mich verstanden?«

Garlans blauen Augen waren genauso mit Tränen gefüllt wie Delilas. Dennoch nickte er.

»Guter Junge«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Du machst mich stolz. Und du wirst noch viele andere stolz machen. Ich liebe dich, kleiner Bruder.«

»Ich liebe dich auch.« Er hauchte es nur, doch seine Worte brannten sich in ihr schmerzendes Herz. Sie schloss den Schrank sorgfältig und prüfte, ob man Garlan darin sehen konnte. Erleichtert stellte sie fest, dass dem nicht der Fall war.

Sie eilte zum Bett und kauerte sich darauf zusammen. Sie hatte in ihrem Leben noch nie eine solche Angst empfunden. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie sie fanden. Es waren nur wenige Sekunden seit dem Einbruch vergangen, die sich für Delila anfühlten wie eine Ewigkeit. Ihr Herz raste, als die Schritte sich näherten und einer der Männer den Kopf in das Kinderzimmer steckte. Das Grinsen, das sich auf seinem braun gebrannten Gesicht abzeichnete, würde sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen. Zumindest die wenigen Minuten über, die sie noch zu leben hatte.

Er rief den anderen Männern wieder etwas zu und näherte sich ihr dann und begann dann, sie auszuziehen. Sie gab nicht einen Laut von sich. Nicht einen einzigen. Sie wollte nicht, dass Garlan hören konnte, was der Mann mit ihr tat.

Garlan hörte nur immer wieder leises Wimmern, das von regelmäßigem Stöhnen und dem Knarren des Betts fast vollständig übertönt wurde. Er war zu klein, um zu begreifen, was geschah. Garlan hörte nur, dass noch weitere Männer dazu kamen und alles von vorne begann. Aber er hörte Delila nicht mehr, hörte kein Weinen, Wimmern oder Schreien. Vielleicht hatte man sie gehen lassen. Vielleicht war sie längst in Sicherheit und wartete auf ihn. Hoffnung keimte in seinem winzigen Herz auf, wie ein Licht in der Dunkelheit.

Trotzdem hielt er sich an sein Versprechen und verließ sein Versteck erst, nachdem die vielen Männer seit mindestens einer Stunde fort waren. Garlans Augen brauchten lange, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Doch dann sah er sie.

Delila.

Nackt. Und mit durchgeschnittener Kehle.

Sie war blutüberströmt und als er ihre Hand nahm, war diese kalt und steif.

»Delila«, murmelte er immer und immer wieder, weil er die Hoffnung hatte, dass sie nur schlief und dass man sie wieder gesund machen konnte, wenn er einen Arzt holte. Er hatte schon einmal erlebt, dass sie Fieber gehabt hatte und ein Arzt sie heilen konnte. Sie hatte einen Saft trinken müssen und hatte sich am nächsten Tag schon viel besser gefühlt.

Heute allerdings hatte sie kein Fieber. Und sie würde auch nicht aufwachen.

Die Überzeugung festigte sich jedoch erst, nachdem er minutenlang ihren Namen gebrüllt hatte. Delila. Seine große Schwester. Er hatte doch niemanden sonst. Und sie hatte auch niemanden sonst gehabt. Und Garlan hatte sie im Stich gelassen.

Seine Gedanken überschlugen sich fast, als er von ihr weg stolperte und in dem vielen Blut ausrutschte, das auf dem Boden zu gerinnen begann. Er hatte sie nicht beschützt. Er war ein Versager.

Dieser letzte Gedanke würde ihn für immer begleiten.


The UnbrokenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt