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Auf dem Weg zum Haus meiner neuen Mentorin, kam ich an einigen Todesboten vorbei. Einige von ihnen wirkten als hätten sie sich extra für ihre Aufgabe verkleidet. Da war einer in einen schwarzen Umhang gehüllt, dessen Kapuze sein Gesicht komplett verdeckte. In der Hand hielt er tatsächlich eine Sense. Die meisten waren eher dunkel gekleidet. Nur eine Frau kam mir bunt gekleidet entgegen, sie war geschminkt wie ich es von Bildern vom "Dia de los muertos" aus Mexico kannte. Besonders beindruckte mich einer der aussah, als hätte er Flügel aus Licht. Gespannt, wie wohl meine neue Lehrerin aussehen würde, klingelte ich an ihrer Haustüre.

Es öffnete mir eine junge Frau, die ungefähr in meinem Alter sein musste. Ihr bildhübsches Gesicht wurde von blonden Locken eingerahmt. Gekleidet war sie in ein weißes Kleid aus einem dünnen Stoff und eine Sanduhr hing an einer Kette um ihren Hals. Vielleicht war es ihre blasse Haut, die sie fast geisterhaft durchsichtig wirken ließ. Sie empfing mich mit einem warmen Lächeln und fiel mir um den Hals. Überschwänglich flötete sie, wie schön es doch sei, wenn verlorene Schafe wieder zur Herde zurückfänden. Sie, Lucinda, könne es kaum erwarten mir alles zu zeigen, fuhr sie fort.

Mit ihrer offenen, lebensfrohen Art fand sie bestimmt überall schnell Freunde. Sofort hatte auch ich sie ins Herz geschlossen. Unser Gespräch begann beim üblichen Kennenlerntratsch und endete mit Lucindas Schwärmereien über den Fürsten. Sie schienen sich ziemlich nahe zu stehen. Liebevoll nannte sie ihn Avi. Und ich erfuhr, dass er Alvar hieß. Natürlich war auch mir sein gutes Aussehen nicht entgangen, jedoch lag mein Fokus momentan anderswo.

Lucindas Schwärmereien brachten in mir wieder die Frage auf, wie es für unseresgleichen eigentlich möglich war, Liebe zum Ausdruck zu bringen. Wurden die Todesboten durch den Kuss eines anderen Todesboten ins Jenseits befördert? Lucinda bejahte meine Frage. Für sie stellte das jedoch kein Hindernis dar. Da sie unter Todesboten aufgewachsen war, empfand sie es sogar als befremdlich, dass Menschen die sich liebten einander auf die Lippen küssten. Da es nach unserem langen Gespräch schon reichlich spät geworden war, nahm ich das Angebot in Lucindas kleinem Haus zu übernachten gerne an.

Ich lebte mich so schnell in der verborgenen Stadt ein, dass ich meine Zeit bald nur noch dort verbrachte. Deswegen sorgte Lucinda dafür, dass mir eines der leerstehenden Häuschen zugeteilt wurde. Meine Mietwohnung in der Menschenwelt kündigte ich und zog endgültig in die verborgene Stadt. Die meiste Zeit verbrachte ich mit Lucinda. Dass sie sehr korrekt war und streng an allen Regeln und Gesetzen festhielt, ärgerte mich manchmal etwas. Nie durfte man auch nur daran denken etwas Verbotenes zu tun. Diese für mich negativ assoziierte Eigenschaft, glich sie jedoch mit ihren vielen positiven Eigenschaften mehr als aus. Wir wurden richtig gute Freundinnen.

Nach einiger Zeit weihte sie mich ein, dass sie eines Tages den Fürsten ehelichen würde. Genau genommen wartete sie jeden Tag auf einen Antrag, es wäre nur noch eine Frage der Zeit meinte sie. Interessant dabei war für mich das Detail, dass die beiden sich nicht besser kannten als die anderen Todesboten innerhalb der Stadtmauern. Lucinda entstammte einer der ältesten, wohlhabendsten Familien der Stadt und war wegen diesem Umstand bereits kurz nach ihrer Geburt als Braut für den Fürsten auserkoren worden.

Nachdem ich diese Informationen erhalten hatte, betrachtete ich Lucindas Schwärmereien unter einem anderen Licht. Sie kamen mir plötzlich aufgesetzt und gestellt vor. Als würde sie sich selbst überzeugen wollen oder als würde sie jede Möglichkeit des Zweifels im Keim ersticken wollen. Immerhin gab es eine Abmachung wie ihr Leben weiter verlaufen sollte. Für die überkorrekte Lucinda gab es somit auch keinen Ausweg mehr. Die Abmachung musste erfüllt werden, was für sie hieß, dass sie eines Tages den Fürsten ehelichen würde.

Es schien sie zu verunsichern, dass sie noch keinen offiziellen Antrag erhalten hatte. Das heiratsfähige Alter hatte sie längst erreicht, doch der Fürst ließ sie warten. Ihr komplettes Leben richtete sie auf diese Hochzeit aus. Sie mied den Kontakt mit männlichen Artgenossen um sich ja nicht zu verlieben. Doch jetzt schlichen sich die Zweifel immer mehr ein, denn von Seiten des Fürstens kam kein Zeichen, dass er an der Abmachung festhielt. Vermutlich um sich von ihrem eigenen Liebesunglück abzulenken, hatte Lucinda, ohne meine Einstimmung wohlgemerkt, beschlossen für mich einen geeigneten Gatten zu finden. Da ich ihre beste Freundin war, und sie bald Fürstin, sollte ich auch in die gehobene Gesellschaft einheiraten.

Mir war das ganze mehr als peinlich. Zudem war ich auch nicht darauf aus, unbedingt zu heiraten. Lucinda wies mich darauf hin, dass mein Problem mit dem gültigen Ausweis Aufgrund meines fehlenden Herkunftsnachweises noch immer nicht gelöst war. Eine Ehe mit einem angesehenen Mitglied der Gesellschaft könnte den Herkunftsnachweis vielleicht obsolet werden lassen, mutmaßte sie. Das anstehende Frühjahrsfest sei die ideale Gelegenheit dafür. Sie würde nach potentiellen Partnern Ausschau halten und mich den geeigneten Kandidaten vorstellen, strahlte sie. Lucinda war so begeistert und euphorisch, dass meine halbherzigen Versuche ihr die Sache auszureden, einfach an ihr abprallten.  

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