Denk nicht darüber nach

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Mum und ich sind bereits seit fast drei Stunden im Wagen unterwegs. Einmal mehr bin ich meinen Großeltern dankbar dafür, dass sie darauf bestanden haben, dass Mum diesen Wagen fährt. Die Größe macht es einem einfach, sich bequem in den Sitz zu lümmeln und die Klimaanlage ist bei beinahe 30 Grad Außentemperatur ein Segen.

„Und das steht jetzt sicher fest?", frage ich sie gerade und Mum nickt seufzend. „Ja, Harold bleibt nichts anderes übrig. Der Kerl ist der Einzige, der die Praxis übernehmen will und da es die einzige Praxis im Umkreis ist, wird er es tun. Auch wenn es ihm anders lieber wäre."

Dr. Harold Adams ist der örtliche Tierarzt. Mum arbeitet schon seit fünfzehn Jahren bei ihm in der Praxis als Pflegerin oder besser Mädchen für alles. Sie liebt ihren Job, doch jetzt muss sie sich eine neue Stelle suchen. Harold geht in den Ruhestand und der junge Arzt, der die Praxis übernehmen will, bringt sein eigenes Team mit. Die fünf Pfleger inklusive meiner Mum werden entlassen.

Mum hat es schon länger geahnt, sich auch nach einem neuen Job umgesehen, doch da sie auf keinem College war, sondern Harold ihr alles während der Arbeit beigebracht hat, will sie niemand einstellen. Ich weiß genau, dass ich der Grund dafür bin. Meinetwegen hat sie auf die Jahre am College verzichtet und nur, weil Harold ein alter Schulfreund von Grandpa ist, hat er sich ihrer angenommen. Er hat es nie bereut.

Mum hat einfach einen Draht zu Tieren, egal welcher Art. Sie schafft es, verletzte Tiere zu beruhigen, hat keine Angst davor, sich einem aggressiven Tier anzunehmen oder sich mal ordentlich die Hände schmutzig zu machen. Sie hat zu Hause fleißig gelesen, sich Notizen gemacht und bis heute kann sie besser mit Tieren als die meisten anderen. Sie wäre eine fantastische Tierärztin geworden. Doch dann kam ich. Das Mädchen mit dem gebrochenen Herzen.

„Äffchen, denk nicht drüber nach. Ich finde was Neues. Auch ohne offiziellen Abschluss.", reißt mich Mum aus meinen Gedanken und greift über die Mittelkonsole hinweg nach meiner Hand. Sie kennt mich einfach viel zu gut, weiß immer was in meinem Kopf vorgeht. Ich lächle ihr zu, drücke ihre Hand. Sie hat recht. Irgendwie bekommen wir das schon hin. Haben wir immer. Trotzdem werde ich niemals aufhören, mir Gedanken darüber zu machen, wie das Leben meiner Mutter verlaufen wäre, wenn ich nicht krank wäre. Oder überhaupt gar nicht erst geboren worden wäre.

„Schau mal, das müsste es sein." Mum fährt etwas langsamer, zeigt nach vorn und als ich ihrem Finger folge, erblicke auch ich das grüne, weitläufige Gelände. Mum biegt von der befestigten Straße auf eine lange Zufahrt ab und wir fahren durch einen großen dunkeln Metallbogen, die einzige Lücke in dem halbhohen Zaun.

Teller's Horsefarm steht in geschwungenen Lettern darüber und die Bögen und Schnörkel erinnern mich stark an die Schrift in dem Brief, der sich sicher verwahrt in meiner Handtasche befindet. Viel Zeit mir Gedanken darüber zu machen habe ich allerdings nicht, denn ich bin total gefesselt von den großen Wiesen, auf denen vereinzelt Pferde stehen und grasen. Ich entdecke sogar eine Stute, unter deren Bauch gerade ein Fohlen auf wackeligen Beinen steht und trinkt. Ein wirklich zuckersüßes Bild, das mich sofort lächeln lässt.

Je weiter wir der Zufahrt folgen, desto näher kommen wir den Gebäuden. Wenn mich nicht alles täuscht, dürften es zwei große Stallungen und eine Reithalle sein. Daneben zwei große Scheunen, in denen ich im Vorbeifahren einige Maschinen entdecken kann. Etwas abseits gibt es einen Platz, auf dem ein Mann mit einem der Pferde arbeitet. Ich schaue ihm gebannt zu, bis Mum vor dem Wohnhaus etwas weiter hinten parkt.

Einen Moment sitzen wir beide im Auto, bewundern das riesige Haus vor uns. Es ist ein großes Gebäude im Landhausstil, passend zu den umstehenden Gebäuden. Vor dem Haus gibt es eine Menge Blumenbeete, in denen eine bunte Pracht an Blumen erblüht. Dahinter kommt eine Veranda, die sich scheinbar um das ganze Haus zieht. Das Haus muss mindestens drei Stockwerke haben, so hoch wie es ist. Es sieht wirklich richtig gemütlich und vor allem wie ein schönes zu Hause aus.

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