Kapitel 1

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Kapitel 1

Benommen sah Freya aus dem Fenster der Kutsche und streichelte ihre Tochter, die auf ihrem Schoß eingeschlafen war. Die Landschaften, die an ihnen vorbeizogen, nahm sie gar nicht wahr. Im Wechsel kamen Felder, aber auch Wälder in Sicht. Sogar einige Städte durchquerten sie, doch die Schönheit, für die Freya sonst Interesse gezeigt hätte, rauschte an ihr vorbei.

Einzig und allein Damians Geruch, der sie die ganze Zeit schon irgendwie beruhigte, war da. Genau wie seine Nähe und seine Berührungen, die ihr bis jetzt geholfen hatten, sich zu beherrschen. Doch nun, da Melody schlief, konnte Freya nicht anders als zu weinen.

Heiße Tränen, die sie bisher krampfhaft zurückgehalten hatte, liefen nun an ihren Wangen hinunter und tropften auf ihre Schulkleidung.

Wie Freya überhaupt in die Kutsche, die sie zu Damians Familie bringen sollte, gekommen war, wusste sie nicht mehr. Seitdem sie ihr Dorf ausgestorben vorgefunden hatte, fühlte sich ihr Körper sozusagen taub an. Freya konnte es nicht fassen, dass ihre Familie tot war. Nicht nur sie, sondern auch alle in ihrem Heimatdorf Narune. Was dort geschehen war, wusste noch keiner.

Auch, wie es von nun an mit ihr und ihrer Tochter weitergehen würde, war unklar.

Fast schon trotzig wischte sich Freya die heißen Tränen aus dem Gesicht, die gleich darauf wiederkamen. Sie schaffte es nicht einmal, Damian ins Gesicht zu sehen, weil sie wusste, dass sie sofort laut weinen würde. Das konnte sie jedoch nicht, weil sie Melody nicht wecken wollte.

Ihrer Tochter hatte sie bisher noch nichts von der Hiobsbotschaft erzählt, sondern nur, dass sie Damians Familie besuchen würden. Noch war Freya nicht in der Lage, über das Geschehene zu sprechen. Nicht, ohne zu weinen. Damit würde sie Melody extrem verunsichern, weshalb sie entschlossen hatte, das Gespräch auf einen anderen Zeitpunkt zu verlegen, wenn sie sich gefasst hatte.

Damian kraulte beruhigend ihren Nacken, schaffte es aber nicht, ihre Gedanken abzulenken. Vielleicht war das auch nicht sein Wunsch und er wollte ihr einfach nur zeigen, dass er da war. So genau konnte sie es nicht sagen.

Schließlich fuhr die Kutsche eine breite Einfahrt hinauf. Dabei waren sie mitten in der Stadt, doch plötzlich wurde alles wieder Grün. Bäume, Büsche und Blumen. Überall.

Die Kutsche hielt und bevor sie etwas sagen konnte, hob Damian sie samt Melody auf den Arm und verließ mit ihr irgendwie die Kutsche.

Verwundert ließ Freya ihren Blick schweifen und sah auf die veränderte Umgebung. Ein helles, großes Gebäude lag vor ihnen und wirkte einladend mit den bunten Gardinen hinter den Fenstern. Freundlich und nicht so, wie sie ein Haus der Reichen erwartet hatte.

Die Blumenbeete und Wiesen auf dem Grundstück standen in voller Blüte und verbreiteten einen angenehmen Duft.

Wie lange waren sie gefahren? Durch ihre Trauer hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren. "Wo sind wir?", fragte sie heiser flüsternd, um ihre Tochter nicht aufzuwecken. Durch das Weinen war ihre Stimme rau und ihr Hals kratzte.

"Das ist unser Ferienhaus", sagte Damian sanft. "Hier können wir die Ferien verbringen. Selene sollte schon hier sein", sagte er und sah sich um. Freya wusste nicht genau, was Rosalie erzählt hatte. War sie auch hier?

Sie wusste nicht, ob Rosalie überhaupt nach Hause hatte fahren wollen oder die Ferien lieber bei einer Freundin verbringen wollte.

Selbst beim Umsehen konnte sie niemanden erkennen. Was ihr sogar gelegen kam, denn so verweint wollte sie niemanden unter die Augen treten. Ihr wäre es sogar lieber gewesen, wenn die Fahrt noch etwas gedauert hätte, damit sie sich sammeln konnte.

Die Magie der Steine - Eis (Band 5) [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt