Das Zugunglück

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Seit gestern Mittag sitze ich nun hier und heule ununterbrochen. Ich habe nichts gegessen, nicht geschlafen und keinen Zug genommen, der mich hätte wegbringen können.

„Oma??"

Ich brauche einen Moment, bis die Lichtpunkte vor meinen Augen verschwinden. Die ganze letzte Zeit habe ich auf meine Hose gestarrt, die jetzt von den Tränen durchnässt ist.

„Lisa?"

Sie umarmt mich. „Ja, Oma. Ich bin's. Was machst du hier? Was ist passiert?"

„Opa ist tot, weil's bei uns gebrannt hat.", sage ich tonlos.

„Was? Oh Gott! Wie...?"

„Das Bügeleisen ist ihm runtergefallen und aufs Parkett gefallen. Es war eingeschaltet..."

„Und dann?"

„Alles ging in Flammen auf. Und ich war natürlich einkaufen."

Lisa setzt sich neben mich. „Das ist hart."

„Mm."

„Und nun?"

„Ich kann nicht mehr."

„Ich weiß. Willst du bei mir bleiben?"

„Geht das denn?"

„Klar. Sonst hätte ich nicht gefragt."

In 40 Minuten geht der nächste Zug. Lisa wohnt in Stuttgart. Sie hat dort eine günstige Reihenhauswohnung ergattert.

„Wann ist das passiert, Oma?", fragt Lisa, während wir auf der Bank im Bahnhof sitzen.

„Gestern Mittag. Als alles vorbei war, bin ich hierher und sitze seitdem da."

„Oh je. Wo hast du denn geschlafen?"

„Hier. Eigentlich hab ich nicht geschlafen..."

„Ist dir kalt?"

„Etwas schon."

„Komm mit, wir trinken drinnen einen Kakao."

Lisa setzt sich mit mir ins Cafe, wo ich als erstes aufs Klo gehe. Eine halbe Stunde später nehmen wir den Zug nach Stuttgart. Nach zehn Minuten Fahrt verspüre ich erneut Harndrang. Ich möchte auf die Toilette, doch die beiden in unserm Wagen sind defekt. Ich probiere die im nächsten Wagen. Dort ist besetzt. Und der Harndrang verstärkt sich.

Nervosität wächst in mir. Ich beschließe zurückzugehen und Lisa um Rat zu fragen. Der Blasendruck nimmt mir meine Kräfte. Ich muss mich an einem Sitz stützen.

„Ist Ihnen nicht gut?", fragt eine Frau.

„Oh.", mache ich. „Irgendwie sind alle Toiletten besetzt. Und ich muss ganz nö..."

Zisch! Langsam blicke ich auf meine Beine. Meine Hose verfärbt sich dunkel. Peinlich berührt drehe ich mich um und gehe zurück.

„Lisa!"

Meine Enkelin sieht von ihrem Laptop auf. „Ja, Oma?"

„Kannst du mir irgendwie helfen? Ich hab ein Problem."

„Was ist denn? Oh..."

„Ja.", erwidere ich niedergeschlagen auf Lisas Erkenntnis.

„Aber Oma, wie ist das denn passiert?"

„Einfach so. Kann ich mir von dir was borgen?"

Lisa nickt und holt ihren Koffer von der Ablage herunter. Wir öffnen ihn und Lisa gibt mir Sachen. Ich ziehe los höre aber, dass Lisa hinter mir her kommt und drehe mich um. „Musst du?"

„Nein, ich helfe dir."

„Meine Liebe, ich kann mich schon alleine umziehen."

„Oma, du bist bis auf die Haut durchnässt. Wir müssen dich waschen."

„Nicht so laut!", beschwere ich mich. Dann geht Lisa an mir vorbei und findet bald eine verfügbare Toilette. Die für Rollstuhlfahrer. Drinnen ziehe ich meine Hose aus. „Ich mach mal ein paar feuchte Tücher fertig, dann kannst du dir gleich den Urin abwischen.", meint Lisa. „Ich versteh das auch gar nicht: Dass du im Cafe auf Klo warst, ist doch gerade eine Stunde her."

Die EnkelinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt