Kapitel 1

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Die schönsten Erinnerungen werden durch die kleinen Dinge kreiert, winzige, unwichtige Details, die niemand sonst bemerkt. Ein Wimpernschlag, zart und fragil, wie der Flügelschlag einer Libelle. Und bevor man bemerkt hat, welche Macht der Augenblick entfaltet, ist er vorbei, und man fragt sich, ob man ihn wirklich gerade erlebt hat. Schaut man zurück, nimmt etwas Abstand und eine andere Perspektive ein, so erscheint der Moment wie ein magisches Glühwürmchen in einem Glas. Man scheint es gefangen zu haben, ein Gedankenfragment irgendwo in den Tiefen der angehäuften Erinnerungen. Doch versucht man, genau hinzuschauen, so verschwimmt das Tierchen vor den Augen, das Leuchten wird schwächer und schwächer, je näher man tritt. Bis es irgendwann erlischt. Niemand kann einen solchen Moment einfangen, abfüllen, etikettieren und in ein Regal stellen. Vielleicht versucht man es, aus Verzweiflung, aus Angst, zu vergessen. Loslassen gehörte noch nie zu den Dingen, die die Menschen einfach vollbringen konnten. Wir lieben es, Dinge anzusammeln, sie mit unseren Gefühlen zu verweben und sie dann mit der Begründung, aus Sentimentalität getrieben zu sein, in eine verstaubte Box zu packen und die nächsten Jahre nicht mehr aufzumachen. Wir behalten Dinge des Behaltens wegen. Warmes Sonnenlicht flutete durch die hohen Dachfenster und vergoldete die Staubflocken, die um mich herumschwebten und sich an jede meiner Bewegungen anpassten. Sie kitzelten mich in der Nase und verfingen sich in meinen Locken. Mit einem Seufzen trat ich an das Fenster, drehte den hohen Holzregalen meinen Rücken zu. Ich war nicht bereit, meine verstaubten Boxen zu öffnen. Ich wollte an den schönen Erinnerungen festhalten, die ich meinte in den Boxen verstaut zu haben. Doch obwohl ich es verleugnete, wusste ich wohl, dass all die kleinen Erinnerung nicht mit dem eigentlichen Inhalt der Boxen übereinstimmen würden.

„Wie lange stehst du schon hier am Fenster?", tief versunken in meinen Gedanken hatte ich nicht bemerkt, wie jemand hinter mich getreten war. Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter. Als ich meinen Kopf hob, blickte ich in ein Paar bernsteinfarbene Augen, Zwillinge der meinen.

„Dad. Ich möchte nicht gehen.", meine Stimme klang fremd in meinen eigenen Ohren. So zerbrechlich und zittrig, wie der nervöse Flügelschlag eines kleinen Spatzes. Dad legte nun auch seine zweite Hand auf meine andere Schulter. Seine Augen funkelten, als er vor mir in die Hocke ging.

„Cleophelia meine Kleine. Sammelst du gerne Erinnerungen?", fragte er mich sanft. Vorsichtig blinzelnd nickte ich und der goldene Staub bewegte sich sanft auf und ab. Dad lächelte und ich wusste, was jetzt kommen würde. Wir spielten dieses kleine Spiel, seit ich denken und träumen konnte. Erinnerung gegen Erinnerung. Ein Tausch, eine Erzählung gegen die andere, Wort für Wort. Gespannt beugte ich mich also nach vorne, um nichts von der Geschichte zu verpassen.

„Bist du bereit? Du musst gut zuhören Cleophelia und die Geschichte einfangen. Fehlt ein Wort, so ist sie nicht komplett, so fehlt dir ein Puzzleteil. Und das Puzzle kann nicht vollendet werden.", er strich sich mit der linken Hand über seine kurzen, schwarzen Bartstoppeln. Ich nickte, nun schon etwas eifriger.

„Gut Cleophelia. Ich werde dir eine Geschichte erzählen, die sich vor nicht allzu langer Zeit zugetragen hat. Und sie begann in einem Dachboden, so wie dieser hier. Doch anstatt Boxen in Regalen fanden sich hier Bücher, sehr viele alte und neue Bücher. Und da war ein Mädchen mit braunen Locken und einer Zahnlücke.", ich kicherte, denn erst gestern war mein linker Schneidezahn ausgefallen. Er war in einem Apfel steckengeblieben, und nachdem ich vor Schreck angefangen hatte zu weinen, hatte Dad gelacht und mich in seine Arme genommen. Ich sei nun ein bisschen größer geworden, hatte er mir verraten, denn um zu wachsen, musste man sich manchmal von Dingen trennen. Auch, wenn es sich fremd und falsch anfühlte.

„Der Dachboden mit den Büchern war ihr Lieblingsort. Sie versteckte sich gern zwischen den alten Ebenholregalen, roch an den vergilbten Seiten und an alten Ledereinbänden, oder ließ ihre kleinen Finger über die vergoldeten Titel der Bücher tanzen. Das Mädchen wusste nämlich, wie besonders diese Bücher waren. Hob man ihren Deckel an und las die ersten Zeilen laut vor sich hin, so entstand ein Portal in eine andere Welt. Eine Welt voller Magie und Träumen..."

Breathe - Atemzug in einer anderen WeltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt