In dieser Nacht schlief ich kaum. Im Halbschlaf warf ich mich hin und her, bei jeder Bewegung kitzelten meine Locken mich im Nacken. Die blauen Augen wollten mir nicht aus dem Kopf gehen. Der Junge mit der Geige tauchte erneut vor meinem inneren Auge auf, ein breites Grinsen, das seine Zahnlücke offenbarte. Es war einmal, hörte ich die Stimme von Dad sagen und Erwartung zupfte an mir. Eine neue Geschichte. Eine neue Erinnerung.
Es war einmal eine andere Welt. Eine Welt voller Magie. Doch etwas geschah. Die Magie verschwand. Und die Welt wurde in ewige Dunkelheit getaucht.
Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Es war kalt geworden, Wind blies mir ins Gesicht, ergriff meine Haare und zog spielerisch an ihnen. Als ich mich umsah, erstarrte ich. Ich befand mich am Rande einer Klippe. Der schiefergraue Stein fühlte sich eiskalt unter meinen Fußsohlen an. Winzige Schneeflocken rieselten auf mich herab und bedeckten den weißen Krankenhauskittel, den ich trug. Zitternd schlang ich die Arme um meinen Bauch. Tief unter mir toste das Meer, graue Gischt spritzte an den unteren Felsen in die Höhe, wie ein hungriges Ungeheuer, das nach seiner Beute griff. Die Wolken hingen so tief, sodass ich mir einbildete, sie berühren zu können, wenn ich nur meinen Arm ausstrecken würde. Kleine Dampfwolken verließen meine Lippen, als ich ausatmete.
„Cleophelia?"
Mein Kopf drehte sich ruckartig in Richtung des Geräusches. Doch hinter mir war nichts. Mein Blick schoss zurück zu den schäumenden Wellen und meine Augen weiteten sich. Vor mir schlängelte sich eine goldene Lichtsäule aus den Tiefen des Wassers in die Höhe. Immer höher schien sie zu wachsen, weit über meinen Kopf hinweg, bis in die Wolken hinein. Das Licht brannte mir in den Augen und schützend hob ich eine Hand vor mein Gesicht. Glockenhelles Lachen schallte um mich herum. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Helligkeit und ich konnte den Umriss einer Frau ausmachen. Ihre krausen Haare flogen wie ein silbriger Heiligenschein um ihr Haupt. Die Faszination packte mich und neugierig trat ich näher. Das gleißende Licht um die Frau wurde langsam schwächer, bis es zu einem warmen Schimmern reduziert war. Die Frau lächelte sanft. Der silbrige Heiligenschein stammte von ihrer eisgrauen Haarpracht, die sanft von Wind der Wellen bewegt wurden. Sie trug ein einfaches Leinenkleid, welches im Licht schimmerte und ihren Körper bei jeder Bewegung wie ein Meer aus Sternen umfloss. Doch das Seltsamste an der Frau waren ihre Augen. Ich blickte direkt in einen Wirbel aus Farben, rot, blau, grün, lila, braun, gelb. Sie vermischten sich miteinander und tanzten einen mir unbekannten Tanz, der mich in den Bann zog.
„Du hast zu diesem Ort gefunden.", die Frau sprach mit sanfter Stimme, die mich an den Klang heller Glocken erinnerte.
„Was?", rutschte es mir heraus.Die Frau sah mich wissend an. „Du hast hierher gefunden.", sie machte eine umfassende Handbewegung. „Du allein. Ich muss zugeben, es hat länger gedauert als erwartet."
Verwirrt legte ich meine Stirn in Falten.
„Ich träume. Wie sollte ich genau hierher finden?" Meine Frage blieb unbeantwortet. Stattdessen wehte eine Windböe vom Meer zu uns auf die Klippen hinauf und befeuchtete meine Wangen mit Salzwasser. Abwesend wischte ich mit meiner Hand über sie. Dabei ließ ich die rätselhafte Frau nicht aus den Augen.
„Träume, Cleophelia. Träume sind jene Geschichten, die ihr Menschen erleben könnt. Natürlich kannst du hierher finden. Wenn dein Herz und dein Kopf es nur fest genug wollen."
„Interessant.", mein Körper erbebte, als ein weiterer Windstoß nach mir griff. Mir war nicht aufgefallen, dass sie mich mit meinem Namen angesprochen hatte. Zu beschäftigt war ich damit, zu verstehen, was es mit diesem Traum auf sich hatte.
„Du denkst zu viel. Du musst dich treiben lassen. Habe Vertrauen.", sagte die Frau und ein leises Lachen schien in ihrer Stimme mitzuschwingen. Irritiert sah ich zu ihr auf. Es wurde immer schwerer, sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Die Kälte in meinen Knochen schien mich zu lähmen und ich atmete zitternd aus. Aufwachen. Ich musste einfach nur aufwachen.
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Breathe - Atemzug in einer anderen Welt
FantasyCleophelia besitzt die Gabe, Geschichten zu erzählen. Nur über ihre eigene scheint sie keine Kontrolle zu haben. Von einer mysteriösen Krankheit befallen, blickt sie in dem New Yorker Krankenhaus ihrem sicheren Tod entgegen. Doch dann taucht der geh...