Kapitel 2

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"Nati!", ruft meine Mutter von unten. Ich knurre genervt in mein Kissen und quäle mich aus meinem gemütlichen Bett. Müssen wir unbedingt so früh fahren? Es sind Ferien, verdammt! Langsam schleppe ich mich durchs Zimmer, mache mein Bett - was ich sonst nie tue, ich will einfach nur Zeit vertrödeln - und suche meine Klamotten zusammen. "Nati!", kommt Mums Stimme von unten. Schon wieder. "Ich bin wach!", schreie ich zurück und höre als Antwort Schranktüren und Geschirr klappern. Sie macht Frühstück. Gähnend schlappe ich ins Bad und stelle mich unter die Dusche. Draußen scheint die Sonne, es scheint ein ziemlich warmer Tag zu werden. Bevor meine Mutter wieder meckern kann, beeile ich mich lieber, seife mich ein und wasche mein Haar, wobei mir auffällt, dass meine Beine mal wieder eine Rasur vertragen könnten. Meh. Schließlich schlinge ich ein Handtuch um meine Schultern und steige aus der Wanne. Vorsichtig, um keine Wasserflecke auf den Stoff zu tropfen, schlüpfe ich in abgeschnittene Jeans-Shorts und ein bauchfreies schwarzes T-Shirt mit weißen Punkten. Ich raffe meine üblichen fünf Armbänder zusammen, ohne die ich nie aus dem Haus gehe, stecke mir meine Perlenohrringe an - drei im rechten, einen in linken Ohr - und trage ein wenig Wimperntusche auf. Dann noch Deo und die Haare kurz angeföhnt und gebürstet. "Natalie!!!" Die Stimme meiner Mutter klingt langsam ungeduldig. "Ich komme jetzt runter, mein Gott!" Rasch steige ich in die weißen Chucks und werfe einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Passt. Ich laufe die Treppe hinunter und setze mich an den gedeckten Frühstückstisch. "Morgen, Schatz!", strahlt meine Mutter. Die ist jeden morgen gnadenlos gut drauf. Echt unglaublich. "Moin", nuschele ich zurück, noch immer nicht ganz wach. Und das ist kein Wunder, es ist erst kurz nach acht. Für Ferien ist das so gut wie mitten in der Nacht.  Ein Brötchen liegt schon auf meinem Teller, daneben steht ein Glas O-Saft. "Dein Vater räumt schon das Auto ein.", erklärt Mum, während sie geschäftig in der Küche herumwuselt. Ich grummele etwas unverständliches zurück und knabbere mein Brötchen. "Wir wollen gleich los, also beeil dich bitte." "Jaja", murmele ich, schiebe mir den letzten Bissen zwischen die Zähne und stehe auf. "Bin gleich soweit." "Jetzt freu dich doch ein bisschen! Es wird bestimmt super!", fleht meine Mutter geradezu. Ich fliehe aus der Küche, bevor ich sie auslache, und verschwinde zwecks Zähneputzen im Bad.

Kurze Zeit später sitzen wir im Auto und rollen in Richtung Autobahn. Sechs Stunden Fahrt! Ich hasse es, über längere Zeit in einem Auto eingesperrt zu sein, und hoffe, einen Teil der Fahrt mit schlafen verbringen zu können.

Und wirklich, als ich wieder aufwache, ist es bereits halb eins und wir kommen gut voran. "Na, Schlafmütze? Wenn es so weitergeht, sind wir in etwa zwei Stunden da.", verkündet mein Dad vom Fahrersitz aus. "Mach nicht so ein Gesicht!" "Was für ein Gesicht mache ich denn? Ich hab nur das eine. Und das habt ihr mir vererbt!" "Du ziehst eine Schnute." Meine Mutter dreht sich auf dem Beifahrersitz halb zu mir um. Offenbar haben sie verabredet, mich gemeinsam weichzuklopfen. "Im See kann man super schwimmen, das machst du doch so gerne." "Außerdem werden wir schon dafür sorgen, dass du dich nicht pausenlos um Niko kümmern musst", mischt Dad sich wieder ein. "Du sollst ihm ja nur ein wenig helfen. Wer weiß, vielleicht ist er gar nicht so schlimm, wie es scheint, und ihr könntet euch anfreunden!" Ich starre ihn an. "Das glaubst du doch jetzt selber nicht!" Er schweigt. Na bitte. Keine Antwort ist auch eine, denke ich und schiebe mir meine Kopfhörer in die Ohren. Hauptsache keine "Das wird alles so super"-Unterhaltungen mehr.

Nach weiteren drei Stunden fahrt - eine davon komplett stehend in einem Baustellenstau - erreichen wir schließlich unser "Ferienparadies", wie meine Mutter es betitelt.

Ich steige aus, strecke mich und sehe mich wieder Willen neugierig um. Leider muss ich zugeben, dass es hier gar nicht schlecht aussieht. Das blaue Wasser des Sees glitzert im Sonnenschein, als würde es den ebenso blauen Himmel widerspiegeln, an dem fluffige weiße Wolken entlangziehen, am Horizont erheben sich die Berge, und ein warmer Sommerwind weht durch die hohen grünen Bäume. Auf dem See entdecke ich vereinzelt Segelboote und winzige Punkte, die ich als Schwimmer deute. Unser Haus, ein großes weißes Gebäude mit blauen Fensterläden und einem roten Dach, liegt auf einem kleinen Hügel, den in diesem Moment drei Gestalten hinunterlaufen. Das heißt, zwei von ihnen laufen, die dritte trottet lustlos hinterher. Sie kommen. Die Erwachsenen begrüßen sich herzlich, während ich ein Stück zurückbleibe und Niko verstohlen mustere. Ungefähr eins achtzig groß, ziemlich muskulös, gestylte Haare in einem undefinierbaren blond-braunton. "Und das ist Natalie... nicht wieder zu erkennen!", reißt Hannas Stimme mich aus meinen Gedanken. Sie ist Nikos Mutter, die mich jetzt in den Arm nimmt und genau betrachtet. "Gut siehst du aus!" "Gleichfalls", gebe ich zurück und zwinge ein Lächeln in mein Gesicht. "Niko, jetzt komm mal her und begrüße die anderen." Der Junge kommt langsam näher und blickt endlich von seinen Schuhspitzen auf. Direkt in mein Gesicht. Shit. Mit ganzer Wucht trifft mich, was ich schon die ganze Zeit halb unbewusst wahrgenommen habe: dieser Typ sieht gut aus. Ich meine, richtig gut. Blaugraue Augen mustern mich, und ich fühle mich, als ginge dieser Blick geradewegs durch meine Kleider bis in mein Innerstes. Plötzlich wird mir klar, dass meine Haare durch das Schlafen im Auto wahrscheinlich ziemlich durcheinander sind, und ich fahre mit beiden Händen hindurch. Verdammt, verdammt, verdammt. Reiß dich zusammen, Natalie! Sein Mund hat sich zu einem leicht spöttischen Grinsen verzogen und er nickt mir betont langsam zu. "Hi." Seine Stimme ist rau. So, als würde er rauchen. Tut er wahrscheinlich auch. Ich hole tief Luft, erwidere sein Nicken und wende mich ab, um hinter den Eltern den Hügel zum Haus hochzugehen. Und spüre die ganze Zeit seinen Blick in meinem Rücken. Was war das denn?

Bad Boy, Good HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt