In meinem Zimmer angekommen, packe ich erst mal meine Tasche aus und räume die Sachen in den kleinen Schrank. Dabei versuche ich, Nikos Augen aus meinem Kopf zu verbannen. Warum hat dieser Blick mich so durcheinander gebracht? Warum? Was soll das? Dieser Gangsterstyle ist überhaupt nicht mein Typ... Bestimmt hat es mich nur irritiert, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Genau, daran wird es liegen. Ich schüttele mich kurz, als meine Mutter an die Tür klopft. "Natalie, machst du dich bitte fertig?" Ach ja. Wir wollen ja alle gemeinsam essen gehen, um unser Wiedersehen zu feiern. Seufzend blicke ich an mir hinuter, soll ich mich umziehen? Spontan entscheide ich mich dafür, abends wird es doch kühl. Also zerre ich eine helle Röhrenjeans aus dem Schrank, die ich bis zu den Knöcheln hochkrempele, dazu ein weißes, mit Rosen bedrucktes Hängerchen, das den Bauch frei lässt, wenn ich mich strecke, und eine hellgraue Kapuzenjacke. Meine Chucks sind perfekt dazu. Nach einem Blick in den Spiegel ergänze ich mein Make-up um zartrosa Lipgloss und einen Hauch weiß glitzernden Lidschatten. Warum mach ich überhaupt so ein Theater? Nachdenklich betrachte ich mich im Spiegel. Die großen, von langen dichten Wimpern umrahmten braunen Augen, die mir mal den Spitznamen Bambi eingebracht haben. Die Stupsnase über dem relativ kleinen Mund. Meine Haare, lang und blond (oder braun - hier gehen die Meinungen auseinander), von türkisfarbenen Strähnen durchzogen, fallen mir wellig bis fast zur Taille. Mein Blick wandert meinen schlanken Körper hinab, den die Sonne schon leicht gebräunt hat. Ich konnte schon immer viel essen, ohne mir Sorgen um mein Gewicht machen zu müssen. Bisher war mir mein Aussehen nicht so wichtig gewesen. Und garantiert kümmert sich Niko kein bisschen darum. Also weshalb, bitte schön, ist es mir dann nicht genauso egal?
Mit einem leichten Seufzen wende ich mich vom Spiegel ab und laufe die Treppe hinunter. Die anderen warten schon. Niko steht an die Hauswand gelehnt und tippt auf seinem Handy herum, als wären wir alle gar nicht da, während unserer Eltern sich angeregt unterhalten. Da das Restaurant, eine Pizzeria, nicht weit entfernt ist, beschließen wir, zu Fuß zu gehen. Der Weg durch den Park, von hübschen Bäumen gesäumt, ist nicht breit, und weil die Erwachsenen alle zusammen gehen, ergibt es sich von selbst, dass ich, ein Stück hinter ihnen, neben Niko laufe. Sogar im Gehen hebt er den Blick nicht von seinem Handy und beachtet mich nicht im Geringsten. Bitte. Dann eben nicht, denke ich, und würdige ihn ebenfalls keines Blickes. Zumindest bis ich einen ziemlich großen Stein mitten auf dem Weg liegen sehe. Dann schaue ich zu Niko, der immer noch nicht darauf achtet, wo er hin läuft, und wieder zu Boden. Er wird stolpern, wenn nicht... Spontan strecke ich die Hand aus und packe ihn am Arm. "Vorsicht." Er schaut verblüfft auf, aus seinen Gedanken gerissen, sieht den Stein und macht im letzten Augenblick einen Bogen. "Danke." Er lächelt nicht. Ich merke, dass ich immer noch seinen Arm festhalte, lasse ihn los und zucke leicht mit den Schultern. "Kein Ding.", murmele ich mehr zu mir selbst und lege dann einen Zahn zu, sodass ich leicht vor ihm herlaufe. Meine Handfläche kribbelt von der Berührung und ich kann ein Schaudern nicht unterdrücken. Ich fühle mich zugleich angezogen und abgestoßen von diesem Jungen, der so offensichtlich kaum Notiz von mir nimmt. Seine unfreundliche Art, sein schroffes Benehmen, sein ganzes Verhalten macht ihn unsympathisch, weckt ein Bedürfnis nach Abstand in mir. Aber seine Augen machen mir dennoch weiche Knie.
Im Lokal setzen wir uns einander gegenüber an einen Tisch in der Ecke, die Leemanns auf der einen, wir auf der anderen Seite. Ich bestelle mir eine Pizza Salami und eine Cola, wie immer. Während des Essens führen unsere Eltern ihr Gespräch fort, zwischen uns beiden herrscht das übliche Schweigen. Ich konzentriere mich auf meine Pizza und beschließe, mich nicht um ihn zu kümmern. Wenn er nicht mit mir reden will - bitte. Was der kann, kann ich schon lange. Als er die Hand ausstreckt, um etwas zu trinken, dringt sein Geruch über den Tisch zu mir, Deo oder Parfüm, gemischt mit Zigarettenrauch. Ich habe es ja geahnt. Für mich gibt es nichts abstoßenderes als den Geruch von Rauch, mir wird schlecht davon. Aber was erwartet man von so einem...
Weiterhin in Schweigen versunken, beenden wir unsere Mahlzeit. Die Eltern wollen anscheinend sitzen bleiben, um zu reden. Mein Gott, ich weiß, dass sie sich seit zehn Jahren nicht gesehen haben, aber trotzdem, wie kann man sich nur so viel zu erzählen haben?! Niko trommelt ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Tisch, und auch mir wird es langsam langweilig. Sehr langweilig. Schließlich beugt er sich zu seiner Mutter. "Ich wollte mit ein paar Leuten noch weg. Disco, du weißt schon. Okay, wenn ich abhaue?", fragt er mit seiner rauen Stimme. Hanna blickt von ihm zu mir, von mir zu ihm und wieder zurück. Dann hebt sie die Schultern und nickt. "Okay, geh ruhig. Aber du weißt..." "Ja, ja, keine Drogen, blablabla. Ich weiß Bescheid.", zischt er und will schon aufstehen, als sie ihn anstupst und auffordernd die Brauen hochzieht. Nikos Gesicht verdunkelt sich für einen Moment, als er sich mit sichtlichem Widerwillen mir zuwendent, und ich begreife. So läuft das also. Pädagogisch wertvolle Zusammenführungstaktik. "Willst du nicht mitkommen?", fragt er mich da auch schon, in einem Ton, der gleichzeitig ausdrückt "Sag nein, sag bloß nein!" Er will mich nicht dabei haben, und eigentlich habe ich auch keine große Lust, mit ihm meinen Abend zu verbringen, aber seine unverhohlene Abneigung löst in mir etwas aus, das Bedürfnis, ihn zu ärgern, zu provozieren, zu zeigen, dass er sich mir gegenüber nicht alles leisten kann. Und so werfe ich mit Schwung meine Haare zurück, schenke ihm ein absolut strahlendes - und genauso falsches - Lächeln und sage betont fröhlich: "Na klar doch, los, lass uns gehen!" Meine beste Freundin wäre wahrscheinlich der einzige Mensch, der merken würde, wie aufgesetzt das alles ist. "Wenn deine Freundlichkeit eine bestimmte Stufe erreicht, wirds gefährlich", sagt sie immer.
Aber hier am Tisch merkt keiner etwas. Meine Eltern sind, genau wie seine, offensichtlich glücklich, dass wir zusammen etwas unternehmen wollen, und deshalb stehe ich gleichzeitig mit ihm auf und wir gehen nebeneinander zur Tür. Meine übertrieben gute Laune verfehlt ihr Ziel nicht, ich kann förmlich hören, wie Niko mit den Zähnen knirscht. Bevor wir endgültig verschwinden, winke ich unseren Eltern noch einmal fröhlich zu.
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Bad Boy, Good Heart
Teen FictionHey Leute, ich bin neu auf Wattpad und werd mich hier einfach mal an einer längeren Geschichte versuchen, über deren Inhalt ich an dieser Stelle eigentlich noch nichts verraten will. Seht einfach selbst! Ich werde wegen Zeitmangels nicht regelmäßig...