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━━━ but she follows, when I call in the middle of the night

Ryujin saß alleine auf dem scheinbar endlosen Holzsteg, welcher die hohen, heute stürmischen Wellen des Meeres ein wenig abblockte.

Der Wind rauschte an ihren Ohren vorbei und zerzauste die schulterlangen, blond gefärbten Haare des Mädchens.

Die Sonne hatte sich schon längst nicht mehr blicken lassen und war vor einigen Stunden hinter dem Horizont verschwunden.

Trotzdem war Ryujin nicht kalt.
Zum einen, weil die erstickende Sommerhitze nicht verschwinden wollte und zum anderen, weil die Schülerin gerade wichtigere Probleme hatte und in ihren Gedanken mehr als nur versunken war.

Sie sah zu ihren Füßen hinab. Hinab in die Tiefe, die sich vor ihr regelrecht präsentierte.
Sie könnte jetzt einfach nur springen.
Hinunter in den Abgrund, der doch eigentlich garnicht so weite entfernt war, oder?

Nur ein kleine Stoß würde genügen und die Wellen würden einen an den Felsen regelrecht zerschmettern, das wusste sie.

In Ryujin war diese Vorstellung gerade mehr, als nur ein Verlangen. Es war ein Muss, eine regelrechte Obsession, welche sie doch eigentlich garnicht steuern wollte und konnte.

Zitternd griff die Blondhaarige zu ihrem Handy.
Wie automatisiert gab sie ihren Pincode ein und wählte eine Nummer.
Eine ganz bestimmte Nummer.
Yejis Nummer.

Tatsächlich hob sie ab.
,,Ryujin?", fragte sie müde ins Telefon, doch die ältere antwortete ihr nicht.
Sie hatte keine Kraft, weshalb sie den Wind und das Wetter für sich sprechen ließ.

Und schon wusste Yeji Bescheid.
Sie kannte diesen Ort nur zu gut, wusste, was sie nun tun musste - weg von Zuhause und schnell zu ihrer Freundin, die das alleine wohl sonst nicht mehr stemmen würde.

Das orangehaarige Mädchen war in Eile, hatte nur Ryujin im Kopf und sprang wie elektrisiert vom Bett.

Es war mitten in der Nacht. 02:45 Uhr.
Eigentlich eine Zeit, zu welcher schon schlief, doch das kümmerte sie nicht.
Es kümmerte Yeji nicht, dass sie wohl heute keinen Schlaf mehr bekommen würde, denn was gab es Wichtigeres, als sie, Ryujin, ihre Freundin, ihr Herz, ihre Seelenverwandte.

An Schuhe oder eine Jacke hatte die 17 Jährige nicht mehr gedacht, als sie aus dem Haus stürzte und die beschränkt beleuchteten Straßen hinunter zum Strand lief.

Nun peitschte auch ihr der Wind ins Gesicht und sie spürte den nassen Sand unter ihren Füßen, bevor auch sie den hölzernen Steg betrat.

,,Ryujin!", schrie sie gegen das Rauschen der Wellen und hoffte auf eine Antwort.

Natürlich bekam sie keine, denn Ryujin saß wie in Trance auf der Kante der Platform und starrte benebelt in die Tiefe.

Sie wollte es doch nicht. Sie wollte nicht springen. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte nur hei ihrer Mutter sein. Bei ihr, endlich wieder bei ihr.
Doch sie konnte sich nicht bewegen, keinen Zentimeter, nicht einmal einen halben Millimeter.

Und bevor sie sich doch noch irgendwie dazu überwinden konnte, hielten sie zwei Arme fest.
Natürlich waren es die von Yeji.

Die größere zog sie hoch, sah sie an und umarmte Ryujin so fest sie nur konnte.
So fest, dass ihnen beiden die Luft für einen kurzen Moment ausblieb.
So fest, dass ihnen schwindelig wurde, aber das machte nichts.

Langsam setzten sich die beiden zu Boden.
Um sie herum pfiff noch immer der Wind und noch immer war ihnen nicht kalt.

,,Ich bin bei dir, Jinnie", flüsterte die Orangehaarige so leise, als hätte sie gerade etwas Verbotenes gesagt.

,,Ich bin bei dir und ich liebe dich. Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich."

Das tat sie immer.
Ryujin beruhigte es und das war die Hauptsache.
Natürlich stimmte es auch.

Yeji liebte Ryujin - Ryujin liebte Yeji und das war deren kleines, feines Geheimnis.

In der Schule bewahrten sie den Schein, nichts miteinander zu tun zu haben, doch in Wirklichkeit waren sie voneinander abhängig - untrennbar.

,,Ich habe wieder davon geträumt", murmelte das Mädchen und lehnte sich an die Schulter ihrer Freundin.

,,Ich weiß."

,,Ich habe sie wieder gesehen", schluchzte Ryujin und Yeji erwiederte die selben Worte, wie davor auch.

,,Ich weiß."

Denn sie wusste wie immer Bescheid, wenn es ihrer Freundin schlecht ging.
Sie wusste, was passiert war, ein einfacher Blick hätte gereicht und Yeji hätte erahnen können, was sich wieder zugetragen hatte.
Es war nicht schön, es war grässlich, aber so war es nunmal, das Leben.

,,Sie ist einfach so ertrunken."

Ryujins Stimme glich dem Wind.
Sie war aufgebraust, unruhig aber doch so leicht und zart.

Wieder nahm Yeji das Mädchen vor ihr in ihrer Arme.
Diesmal aber drückte sie sie nicht so fest, wie davor, nein.
Diesmal legte sie ihre Wange auf die ihrer Freundin.
Es beruhigte beide und ließ Ryujin für einen Moment vergessen.

,,Komm mit mir", war das einzige, was Yeji noch flüsterte, bevor sie aufstand und auch die Schülerin vor ihr auf die Beine zog.
Sie wusste, dass Ryujin zwar deutlich geschwächt war, aber sie konnte die Blondhaarige nicht einfa h hier sitzen lassen. Nicht hier im Nassen.

Mit ineinander verschränkten Händen schlenderten die beiden in der Dunkelheit durch die Starßen und and vielen Häusern der Stadt vorbei.

Ihr Zeil kannten die Mädchen nur zu gut, denn es war der Ort, an welchem sich die Wolken lila färbten.

,,Ich bin müde, Yeji", murmelte Ryujin erschöpft und lehnte sich ein Stück gegen ihre Freundin.

Es war keine Überraschung für Yeji.
Aber auch ihr konnten jeden Augenblick die Lieder zufallen, was sie natürlich nicht zuließ.

,,Wir schaffen das, wir sind gleich da."

Ryujin blieb stehen.
Ihre Augen hatten sich verkleinert und man sah ihr an, dass sie überanstrengt war.

,,Kannst du- kannst du mir einen Kuss geben?", fragte Ryujin ihre Freundin mit ihrer zarten Stimme, die doch sonst immer mit sie viel Energie gelanden war.

Eine Antwort war überflüssig.
Schon hatten sich die Lippen der beiden Mädchen vereint, zu einem kurzen, aber gefühlvollen Kuss.

Und sie beide wussten; mit den ersten Sonnenstrahlen würde alles wieder so sein, wie immer und keinem würde etwas auffallen.
Keiner würde ihnen die Geschehnisse der Nacht anmerken und keiner würde auch nur auf die Idee kommen, irgendetwas zu vermuten. Niemals.

━━━ AUTHOR'S NOTE, O1.11.2O21

Habt ihr einen Lieblingsplatz?
Wenn ja, wo?

BUT YOU : RYEJIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt