Levis Dämonen

45 6 3
                                    

Die zweite Nacht in Maternita brach an. Nanna war nicht mehr so nervös wie am Abend zuvor, doch die Anspannung kroch dennoch ihren Rücken empor, als hätte sich eine der Spinnen daran festgeklammert. Nanna schüttelte sich, um sie loszuwerden. Doch sie hatte sich fest in ihren Knochen verankert.

Sie setzte sich an den Bettrand und starrte auf ihre nackten Knie. Sie schimmerten blau im Licht der Meeres-Hologramme. Fische schwammen zu ihren Füßen, Korallen umspielten ihre Beine. Das sanfte Rauschen vereinigte sich mit dem Rauschen ihres Blutes. Es dröhnte in den Ohren.

Levi sprach kein Wort. Zuvor hatte er sein Sprito getrunken, seine Pillen geschluckt und Nanna konnte unmöglich einschätzen, wie es um sein Gemüt bestimmt war. Ein Schatten war auf seinem Gesicht gelegen und hüllte ihn nun in Schweigen. Was hatten die Jungs in ihrer Erziehung erlebt? War es so viel schlimmer als bei den Mädchen? Mussten sie solch belastende Erfahrungen tragen, um abzuhärten? Hart für was? Auf welche Aufgaben wurden sie vorbereitet? Was erwartete sie dort oben? Krieg? Das Gesetz des Stärkeren?

Die vielen Fragen verklumpten Nannas Herz. Etwas zog und zerrte daran. Die Fragen tanzten um sie herum wie Regentropfen. Unendlich, unzählbar. Würden sie jemals beantwortet werden? Ein Leben ohne Gedanken, einfach nur existieren und fühlen - das war Nannas wahrer Wunsch. Im Mondlicht wandeln und ihre bloße Existenz feiern. Lachen. Tanzen. Lieben? Gab es so etwas? Ein Leben im Augenblick?

Nannas Herz zerriss unter diesem Verlangen. Für dieses Ziel würde sie kämpfen bis aufs Blut, ja, sogar sterben. Und alles ertragen, nur um ihr Ziel eines Tages zu erreichen.

Levi lag neben ihr, das spürte sie, ohne ihn zu sehen. Sie überlegte, ob sie etwas sagen sollte, etwas fragen, doch sie konnte nicht. Sie saß in einem Glaskasten. Nichts drang hinaus oder hinein. Und so legte sie sich ebenfalls hin, in das Meer aus Schweigen und Kälte. In die tote Welt der Gegenwart. In das Netz aus Lügen.

Nanna zog sich die Bettdecke bis unters Kinn und betrachtete die Zimmerdecke, wo gerade ein Rochen seine Kreise zog. Sie kannte ihn nur aus dem Unterricht. Hatte diese Kreatur tatsächlich einmal existiert? Unglaublich. Nannas Augenlider drückten und sie ließ sie sinken. Punkte tanzten vor ihren geschlossenen Augen. Sie entspannte sich ein wenig. Bald würde sie Saraya in die Arme schließen, wenn auch nur für kurze Zeit. Tränen drängten unter ihren Lidern hervor bei der Erinnerung an ihre Freundin.

Vielleicht hatte Saraya schon eine Möglichkeit gefunden, um Nanna hier herauszubekommen. Hatte Marius davon erfahren? Hatte er eine Lösung für ihr Problem? Er war der Schlüssel zur Flucht, das spürte Nanna deutlich. Immer wieder sah sie Marius vor Augen. Seinen durchdringenden Blick, als könnte er ihre Gefühle spüren. Und seine Freundlichkeit und Nähe. Er war etwas Besonderes. Mehr Mensch als alle anderen.

Nanna hatte sich eine Weckfunktion eingestellt, denn sie musste dringend schlafen, bevor sie den Dreamwalker aktivierte. Außerdem musste sie sowieso warten, bis Levi tief und fest schlief. Die Wärme umschlang sie wie ein Freund. Sie versank in den Kissen und schaffte es, loszulassen. Das lag vielleicht an dem Drink, den sie sich genehmigt hatte, mitsamt einer Prise Traumsalz. Normal verzichtete sie auf solche Hilfsmittel, aber es war wichtig, dass sie zur Ruhe käme, nicht dass Hendrik ihre Überspanntheit bemerkte, und sie übertrieben im Auge behielt.

Die Klänge der Nacht griffen nach ihr, sie vergaß, wo sie sich befand, und tauchte hinab, in das Meer ihrer Seele. Dort unten stand der Junge vom Hügel, er grinste sie an, als hätte er sie bereits erwartet. Andere Gestalten tauchten auf, dahinter der Vollmond, satt und schwer schwebte er hinter den Hügeln und beleuchtete die Szene wie ein Theater. Auch er schien zu lächeln. Und dann kam Marius auf Nanna zu. Er streckte seine Hände nach ihr aus und sie hatte das Verlangen, ihn fest in ihre Arme zu schließen. Er war nur eine Maschine, doch schien etwas oder jemand in ihm zu wohnen.

NANNA - Mondtochter (LESEPROBE)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt