XI

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Als sich Facetime öffnet und kurz darauf Olivias Gesicht im Display erscheint, beschleicht mich ein vertrautes Gefühl. Das, was ich wahrscheinlich empfinden sollte, wenn ich mich mit meinen Geschwistern unterhalte. Stattdessen hat sie jedoch diesen Platz eingenommen. Ist sie diejenige, die mich in- und auswendig kennt und mir mit nur einem Blick ansehen kann, dass etwas nicht stimmt.

Doch heute entdecke ich die kleine, steile Falte zwischen ihren Augen und weiß auf den ersten Blick genau, dass etwas nicht stimmt. Bevor ich aber dazu komme, nachzufragen, ertönt auch schon ihre helle Stimme durch den Lautsprecher.

»Warst du schon joggen?« Kopfschüttelnd mustert sie mich. Als wäre es ein Verbrechen, wenn man gerne Sport macht oder früh aufsteht. Nur, weil sie mindestens zehn Wecker benötigt, um Morgens auch nur halbwegs aus dem Bett zu kommen. Wahrscheinlich sieht sie auch deswegen gerade noch so aus, als wäre sie erst vor circa fünf Minuten aufgestanden. Die eine rote Haarsträhne, die sich aus ihrem Vogelnest-artigem Wirrwarr von Haaren auf dem Kopf gelöst hat und jetzt vor ihrem rechten Auge herum baumelt, würde meine Theorie jedenfalls bestätigen.

»Klar, Morgenstund hat Gold im Mund. Außerdem musste ich mich ein bisschen abregen«, ich zucke gedankenverloren mit den Schultern, lasse mich mit dem Bauch voran aufs Bett fallen und versuche einfach nicht in das kleine Kästchen mit meinem Gesicht zu schauen und mich nur auf ihres zu konzentrieren. Denn natürlich sieht man mir deutlich an, dass ich bis eben noch wie eine Irre durch den Wald gerannt bin. Meine Wangen glühen immer noch in einem dunkeln Rotton und ein dünner Schweißfilm glänzt auf meiner Stirn. Im Grunde genommen sehe ich richtig fertig aus. Aber dafür fühle ich mich wie neugeboren. Nicht mehr so schlapp, träge und unausgeglichen wie die letzten Tage. Sondern endlich wieder ruhig.

»Was ist passiert?« Ihre linke Augenbraue zuckt misstrauisch ein Stück nach oben und für einen kurzen Moment, bleibt sie dort auch stehen, um mein Gesicht noch ein Stück genauer betrachten zu können.

Ich seufze. »Das übliche Familien-Drama. Meine Eltern kommen heute vorbei. Aber was solls, erzähl mir lieber, warum dein Kiefer so verspannt aussieht. Hast du wieder mit den Zähnen geknirscht?«

Seit ich Olivia kenne, benötigt sie eine Schiene zum Schlafen. Was irgendwie ziemlich unsexy ist. Jedenfalls wenn man bedenkt, dass das Erste was sie morgens tut, ist, sich das Plastikgestell aus ihrem Mund herauszuziehen. Inklusive Spuckefäden.
Aber ich weiß genau, dass sie ohne sie sonst am nächsten Tag schreckliche
Kopfschmerzen bekommt und ihre Laune dadurch noch unerträglich wird.

Eine weitere Sache, die uns beide voneinander unterscheidet. Denn während sie den Stress über ihren eigenen Körper abbaut, muss ich schauen, dass ich nicht alles kurz und klein schlage, was mir über den Weg läuft.

Ertappt versucht sie gleich darauf, ihn zu lockern und verdreht dann genervt die Augen. »Verdammt, das ist ganz allein die Schuld von diesem blöden Arschloch.«

»Von wem?«

Sie stöhnt genervt auf, bevor sie weitererzählt. »Adrien. Ich hab dir schon von ihm erzählt, wir arbeiten zusammen. Und bei Gott, irgendwann drehe ich ihm einfach den Hals um.«

Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen. Weil allein die Vorstellung, dass Olivia irgendwem den Hals umdreht, einfach zu absurd ist. Davon abgesehen, dass sie nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun könnte. Im Gegensatz zu mir hält sie nämlich recht wenig von Konfrontationen, geht den meisten Streitsituationen lieber aus dem Weg und versucht sie diplomatisch zu klären.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 13, 2021 ⏰

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