Tribut

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Tribut

Ich wünschte, Saruh wäre tot.

Jingen seufzte und lehnte sich gegen die dreckige Wand in seinem ehemaligen Zimmer. Er fuhr sich mit einer Hand durchs dunkle kurze Haar. Hier, in dem verlassenen Waisenhaus Koai, in dem er aufgewachsen war, störte ihn niemand – hier war er allein. Von Saruh abgesehen.

Nein, dachte Jingen. Ich wünschte, ich wäre tot.

Saruh lachte.

Jingen ignorierte ihn. Gedankenverloren strich er über die filigranen Gesichtszüge des kleinen Mädchens. Seine Fingerfertigkeit hatte sich im Laufe der Jahre verbessert. Die selbstgeschnitzte Holzfigur wirkte beinahe lebendig: die weichen Gesichtszüge mit dem Schmollmund und dem rundlichen Kinn. Besonders gut waren ihm die Augen gelungen. Ihr trauriger, leerer Blick.

Ein Meisterwerk.

Tief sog Jingen den modrigen Geruch des verfallenden Gebäudes ein, den er so liebte. Die Kerze vor ihm auf dem Tisch ließ die Schatten der Späne tanzen, als führte sie ein Eigenleben. Gänsehaut kroch über Jingens Arme. Ob vor Kälte oder Entsetzen vermochte er nicht zu sagen.

Einen Moment sah er dem Flackern der Flamme zu, ehe er die Augen schloss und das Geschehene noch einmal erlebte, als passierte es in diesem Moment. Immer wieder. Und wieder.

***

Alle Clans hatten sich in den ausladenden Akademieräumen versammelt, wie die Kabaru es angeordnet hatte.

Die Kabaru thronte auf einem Podest über ihnen und ließ wie üblich keinen Zweifel an der vorherrschenden Hierarchie, während die Clans einzelne Kreise um sie bildete. Ähnlich, wie auch die Oberstadt aufgebaut war.

Ehrfürchtige Stille kehrte im Raum ein.

Die Kabaru ließ sich gern Zeit – und das wirkte. Je länger das Schweigen andauerte, desto beklemmender lag es über ihnen allen.

Jingen unterdrückte den Impuls, unruhig auf dem Stuhl hin und her zu rutschen, und ließ den Blick über die Ryushen-Mitglieder schweifen, deren Clan er selbst angehörte.

Wie so oft tauschte der junge Kiaji einen Blick mit Artis vom Jin-Clan. Kiaji und Artis waren so etwas wie Freunde, vermutete Jingen. Wehmütig dachte er daran, dass ihm das Gefühl von Freundschaft verwehrt bleiben würde. Wahrscheinlich für immer. Alles, was blieb, waren die Pflichten, die er zu erfüllen hatte.

Endlich hob der erste der drei stattlichen Kabaru-Männer die Stimme. »Es ist nicht mehr lange bis zur Prüfung«, sagte er. »Für heute sind deshalb unterschiedliche Aufgaben für die jeweiligen Mitglieder geplant. Alle Prüflinge folgen bitte Ausbilder Lucos in Saal zwei.«

Damit erhob sich Lucos und winkte die entsprechenden Clanmitglieder hinter sich her – darunter auch Kiaji und Artis. Sie verließen den Saal.

»Alle anderen, bis auf die Deathguard, folgen Ausbilder Geros und erhalten weitere Anweisungen.«

Der dritte Kabaru erhob sich und alle bis auf die Deathguard der jeweiligen Clans folgten ihm in Reih und Glied.

Als die hallenden Schritte verklungen waren, wartete der verbleibene Kabarumann noch einen Moment, bis er sich sicher war, die volle Aufmerksamkeit der Deathguard zu genießen.

Langsamen Schrittes ging er das Podest entlang und blickte jedem einmal streng ins Gesicht. Zur Antwort schimmerten die Augen des jeweiligen Deathguards. »Euer heutiger Auftrag hat Priorität. Ich erwarte Diskretion – und tadellose Ergebnisse. Kehrt lieber tot zurück als erfolglos.«

Aus der Welt von Fabula EnsisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt