Kapitel 1 - Die Insel

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»Du hast die Taschenlampe eingepackt?«, fragte Zoey schon zum dritten Mal.

Genervt verdrehte ich meine Augen. »Ja«, sagte ich nur.

»Und das Mückenspray hast du auch eingepackt?«, fragte sie weiter.

Ich seufzte tief, während ich über einen größeren Ast stieg, der mitten auf dem Weg lag. Grillen zirpten um uns herum, ein paar Vögel zwitscherten, der leichte Wind ließ die Blätter in den Bäumen leise rauschen, aber sonst wäre es erstaunlich ruhig hier gewesen, würde Zoey nur nicht ihre gesamte Liste durchgehen, die sie extra für unseren kleinen Ausflug zusammengestellt hatte.

Es war ja okay, wenn sie auf Nummer sicher gehen wollte, um ja nichts zu vergessen, was eventuell lebensnotwendig sein könnte. Aber musste sie dann die Liste auch noch doppelt und dreifach durchgehen? Zumal wir schon so weit von Zuhause entfernt waren, dass wir jetzt schlecht umdrehen konnten.

Plötzlich blieb sie stehen, nur leider so unvermittelt, dass ich auf einen ihrer festen Stiefel trat.

»Hey!«, beschwerte sie sich und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Sorry«, brummte ich entschuldigend, »was kann ich denn dafür, wenn du einfach so stehen bleibst?«

Doch Zoey schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Konzentriert studierte sie ihre Karte und verglich das Eingezeichnete mit unserer Umgebung. Für mich sah hier alles nach dichtem Dschungel aus. Wie sie sich überhaupt zurechtfand, war mir sowieso ein Rätsel. Aber hey, meine Schwester steckte schon immer voller Überraschungen.

Ich stemmte meine Hände in die Hüften. Gefühlt waren wir schon Tage unterwegs. Meine Füße brannten und der Schweiß rann mir an den Schläfen und am Rücken hinunter. Das Shirt klebte an meinem Oberkörper und ich war unendlich durstig.

Erschöpft ließ ich den schweren Rucksack auf den erdigen Boden nieder und angelte nach meiner Flasche. Gerade als ich sie an meinen Mund heben wollte, setzte sich Zoey wieder in Bewegung.

»Hey! Jetzt warte doch mal! Gönnst du mir keine einzige Minute Pause?«, rief ich empört.

Mit zusammengekniffenen Augen blieb sie stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hattest jetzt doch genug Zeit zum Trinken«, merkte sie genervt an. »Aber gut, mach schnell, ich will schließlich heute noch ankommen«, lenkte sie schließlich missmutig ein.

Ich verkniff mir ein sarkastisches »Danke«.

Nach einer weiteren Ewigkeit, umgeben von stickiger Luft, dem grellen Sirren der Insekten und dichtem, grünem Blätterwerk, durchbrachen wir endlich das Geäst und eine weite Lichtung erstreckte sich vor uns.

Zufrieden lächelte Zoey vor sich hin. »Tja, wer sagt's denn, die Karte ist offenbar noch zu etwas gut. Wer hätte das gedacht?«

Wir schlugen unser Lager für die Nacht auf. Völlig fertig ließ ich mich schließlich auf meinen Schlafsack fallen. Zoey bereitete unterdessen das Abendessen vor. Sie summte dabei leise vor sich hin und ich ließ meinen Blick in den Himmel über mir schweifen. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt: das blasse Rosa verfärbte sich zu Dunkelblau und die ersten Sterne leuchteten auf. Hier in der Natur, wo weit und breit kein künstliches Licht herrschte, sah man noch viel mehr von ihnen.

»Sag mal, ist heute eigentlich Vollmond?«, fragte ich nachdenklich.

»Kann sein«, gab Zoey nicht ganz bei der Sache zurück. Sie war zu sehr mit sich beschäftigt, als dass sie sich auf meine Frage konzentrierte.

Eigentlich waren wir zu verschieden – dass Zoey einmal diesen gesamten Ausflug planen würde, hätte ich nie gedacht. Aber sie liebte nun einmal Dad, und seinen letzten Wunsch hätte sie unmöglich ausschlagen können, vor allem da er nun nicht mehr hier war.

»Was glaubst du, wie es Mom gerade geht?«, fragte ich weiter, in der Hoffnung sie würde irgendwann in das Gespräch einsteigen.

Zoey zuckte mit den Schultern. »Sie wird vermutlich ziemlich fertig sein und einen Haufen kochen, den sie dann sowieso wieder wegschmeißt. Du weißt doch, wie sie seit Dads Tod ist«, sagte sie schließlich und sah mir endlich in die Augen. Sie glänzten leicht, aber das konnte auch am Schein des Feuers liegen, das sich darin widerspiegelte.

Sie blickte mir aus meinem Gesicht entgegen, und doch war es so anders. Zoey und ich mochten Zwillinge sein, wir sahen uns so verblüffend ähnlich, und doch waren wir so unterschiedlich, dass man meinen könnte, wir wären nicht miteinander verwandt. Zoey war schon immer die Stärkere von uns beiden gewesen. Sie hatte ihre Gefühle stets unter Kontrolle. Lächelte, auch wenn sie lieber schreien wollte. Nur mich konnte sie nicht täuschen. Ich war die Einzige, die wusste, wie es ihr wirklich ging. Ich konnte es an ihren Augen ablesen. Nicht einmal Mom konnte das.

Zoey seufzte übertrieben, dann senkte sie den Blick wieder. Erneut starrte ich in den Himmel, der fast nur noch dunkel war. Nein, nicht ganz, der Mond schien hell auf uns herab. Es war Vollmond, und so groß und strahlend hatte ich ihn noch nie zuvor in meinem Leben gesehen.

Als sich Zoey nach dem relativ schweigsamen Abendessen in ihren Schlafsack einkuschelte und gleich darauf einschlief, konnte ich noch immer kein Auge zumachen. Der Mond hatte mich in seinen Bann gezogen, fasziniert betrachtete ich ihn weiter. Um mich herum war es still, das Feuer war schon lange erloschen, die Glut abgekühlt.

Da vernahm ich einen kühlen Lufthauch. Er wehte eine Strähne meiner langen Haare ins Gesicht. Kurz darauf raschelte es im Unterholz des dichten Waldes.

Ich fuhr herum, das Herz klopfte auf einmal wild in meiner Brust. Zoey grunzte in ihrem Schlafsack und drehte sich nach einem misslungenen Anlauf schwermütig auf die andere Seite, dann schnarchte sie leise weiter.

»Kaycie!«, flüsterte plötzlich eine helle Stimme ganz nah an meinem Ohr.

Erschrocken wirbelte ich herum, doch da war niemand.

»Kaycie!«, rief die Stimme erneut, diesmal viel weiter entfernt, in der Nähe des Waldrandes.

Es war ein lautes, glockenhelles Flüstern, so ähnlich wie die Stimmen, die man aus Horrorfilmen kannte – nur war diese Stimme ... verführerisch. Ich fürchtete mich nicht, ich wollte nur wissen, warum sie nach mir rief.

Also sah ich mich ein letztes Mal nach meiner friedlich schlafenden Schwester um, die einen Arm über ihren Kopf gelegt hatte und eine Schnute zog. Bei diesem Anblick konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Im Schlaf veränderte sie öfter ihren Gesichtsausdruck, als im wachen Zustand. Da hatte sie meistens die gleiche Miene drauf: eine desinteressierte Maske, die nichts an sich heranließ.

Von Neugier angetrieben verließ ich die Lichtung und folgte der geheimnisvollen Stimme immer tiefer in den Wald hinein. Dabei begleitete mich der helle Mondschein, der durch das Blätterdach der Bäume leuchtete.

Mondsüchtig | VerwandlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt