Kapitel 32 - Andeutungen

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Ich konnte nicht schlafen. Stattdessen starrte ich Löcher an die Decke, an die Wand und hinaus aus dem Fenster. Meine Gedanken drehten sich ausschließlich um diese alte, geheimnisvolle Frau von der Promenade. Beim besten Willen kam ich nicht darauf, wen sie mit sie gemeint hatte, und schon gar nicht wer Elaine war, egal, wie oft ich mir unser seltsames Gespräch ins Gedächtnis rief. Wer war diese Frau eigentlich? Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, obwohl sie mich offensichtlich kannte. Ohne Grund sprach sie mich wohl kaum an.

Mir entfuhr ein tiefes Seufzen. Genau jetzt würde ich gern mit Oscar reden, ihn an meiner Seite haben. Er würde mir zuhören, die ganze Nacht, wenn es sein musste. Seine Nähe und seine Theorien könnten mir vielleicht weiterhelfen. Aber ich hatte eine Entscheidung gefällt, und konnte bei der kleinsten Unsicherheit nicht auf Teufel komm raus bei ihm anrufen. Deshalb saß ich erneut die ganze Nacht wach vor meinem Fenster, grübelte nach und gelangte letztendlich zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis.

Am nächsten Morgen begrüßte Mom uns mit einem üppigen Frühstück. Sie trommelte die ganze Familie in der Küche zusammen. Wahrscheinlich wollte sie, dass Zoey und ich uns endlich wieder vertrugen. Doch diese Rechnung ging selbstverständlich nach hinten los. Schweigend saßen wir am Esstisch. Während Mom die Einzige war, die redete, haute ich ordentlich meinen Teller voll und Zoey stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Unterdessen vermieden wir jeglichen Blickkontakt.

»Wie würdet ihr es finden, wenn ich einen Mann kennenlernen sollte?«, fragte Mom in die angespannte Stille hinein, die sich in den letzten Minuten über uns gelegt hatte, da selbst Mom der Gesprächsstoff ausgegangen war.

Bei ihren Worten wurden sowohl Zoey als auch ich hellhörig. Unsere Köpfe fuhren gleichzeitig in ihre Richtung. Perplex starrten wir Mom an. »Was?«, riefen wir dann auch noch wie aus einem Mund. Unsere Blicke trafen sich. Wütend funkelten wir uns an.

Daraufhin stieß Mom ein zufriedenes, glucksendes Lachen aus. »Na also, jetzt habe ich endlich eure Aufmerksamkeit!« Sie sah uns völlig verzückt an, was ich mit dem Heben einer Augenbraue quittierte.

»Hast du das gerade ernst gemeint?«, wollte ich wissen.

Plötzlich färbten sich Moms Wangen leicht rosa und ein seltsamer Ausdruck blitzte in ihren Augen auf.

»Mom! Dad ist gerade etwas mehr als ein Jahr tot! Und du hast schon einen Neuen?«, mischte sich Zoey aufgebracht ein.

Wie ärgerlich ich das auch finden mochte, ich musste Zoey leider recht geben. Meiner Meinung nach war das unangebracht: viel zu schnell und zudem mehr als überraschend. Hatte Mom nicht einmal gesagt, Dad wäre ihre einzige wahre Liebe gewesen?

Mom wand sich sichtlich unter unseren verständnislosen Mienen. Ausnahmsweise vertraten wir die gleiche Meinung. »Ja ... Schätzchen, ich weiß ...«, murmelte sie an Zoey gewandt, wobei sie nervös an ihrem Besteck herumfummelte.

»Wer ist der Kerl?«, fragte ich.

Dankbar für den kleinen Themenwechsel und das Ende einer weiteren peinlich berührten Stille, sah Mom mich an. »Sein Name ist Ethan Gale, und ich habe ihn in der Klinik kennengelernt.«

Seufzend fuhr ich mir durch die Haare. »Du gehst mit deinem Arzt aus?« Das war mal wieder typisch für sie. Mom war so klischeebehaftet. Ihr Leben verlief wie das einer Frau aus einem hoffnungslos romantischem Hollywoodfilm.

»Er ist nicht mein Arzt, er ist ein Arzt«, korrigierte sie mich. Machte das wirklich einen Unterschied?

»Ist er wenigstens gutaussehend?«, hakte Zoey nach.

Verwundert richtete sich mein Augenmerk auf sie, und ich vergaß für einen Moment, dass ich sauer auf meine Schwester war. Seit wann interessierte sie sich für das Aussehen irgendeines männlichen Wesens?

Mom hingegen setzte einen verträumten Ausdruck auf. »Oh, ja. Er ist absolut umwerfend«, hauchte sie.

Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und schüttelte verzweifelt den Kopf. Das konnte ja noch etwas werden. Nach dem Frühstück flüchtete ich aus dem Haus. Noch länger konnte ich mir Moms Schwärmerei nicht anhören. Es war einfach zu viel des Guten. Was würde wohl als Nächstes kommen? Dass sie diesen Typen zu einem netten Abendessen bei uns Zuhause einlud, damit wir ihn besser kennenlernen konnten? Und dabei mussten wir uns auch noch wie die perfekte Familie benehmen, die wir – nebenbei bemerkt – gar nicht waren? Nicht mit mir.

Ein Blick auf das herrlich glitzernde Wasser des weiten Ozeans, ließ die Sache allerdings schon ganz anders aussehen. Meine Probleme rückten in weite Ferne und der Wind wehte jeden lästigen Gedanken weg, sodass ich wieder einen klaren Kopf bekam. Ich lief den kilometerlangen, weißen Sandstrand entlang. Es beruhigte mich, nichts tun zu müssen, nur die frische Luft zu genießen und das Wasser an meiner Seite rauschen zu hören.

Da blitzte in der Ferne etwas Weißes auf. Ein weißer Sonnenhut, der mir sehr bekannt vorkam ... Handelte es sich bei dessen Besitzerin etwa um die alte Dame von letzter Nacht? Konzentriert starrte ich auf die Stelle, an der ich meinte, sie gesehen zu haben. Und tatsächlich – sie war es. Die alte Frau stand an der Promenade und hielt sich am Geländer fest, die Lider geschlossen und das Gesicht dem Meer zugewandt.

Ich ergriff meine Chance und eilte auf sie zu. Noch einmal würde sie mir nicht entwischen, ohne mir ihre seltsamen Andeutungen erklärt zu haben. Atemlos erreichte ich sie. Sanft wollte ich ihre Schulter berühren, sie möglichst nicht erschrecken, doch sie schien meine Anwesenheit bereits gespürt zu haben.

Sie öffnete ein Auge und linste in meine Richtung, wie ein Hund, den man gerade beim Dösen gestört hatte, bevor sie sich weiter ihrer Aussicht widmete. »Das Wasser muss herrlich sein. Bestimmt ist der Ausblick auf der Insel unbeschreiblich schön.« Mit diesen Worten richtete sie ihre Aufmerksamkeit schließlich auf mich. Die Farbe ihrer grauen Augen erinnerte an die von Sturmwolken. »Du warst doch schon einmal auf der Insel, habe ich recht?«, fragte sie, ein gutmütiges Lächeln zierte ihre Mundwinkel.

Irgendwie schwante mir, dass sie etwas wusste. Vielleicht sogar mehr als mir lieb war. Wie sie so über das Wasser und jetzt auch noch über die Insel redete ... Diese Andeutungen wurden mir langsam unheimlich.

»Ja ... aber deswegen bin ich nicht hier«, entgegnete ich.

Die Frau nickte. »Du willst Antworten.« Bildete ich mir das nur ein, oder wirkte sie erfreut darüber?

»Ja, das will ich. Wer ist Elaine?«

Plötzlich hielt sich die Frau einen Finger an die Lippen. »Scht! Nicht so laut!«, zischte sie. Ihre stechenden Augen durchbohrten mich beinahe.

Erschrocken schluckte ich die Fragen hinunter, die mir auf der Zunge lagen. Doch keiner der Passanten beachtete uns auch nur im Entferntesten. Sie schlenderten unauffällig an uns vorbei, in Gespräche vertieft oder Kopfhörer im Ohr, aus denen vom Wind leise Musik zu mir herübergetragen wurde.

Die Frau griff nach meinen Händen. »Man kann nie wissen, wer gerade zuhört, auch wenn man niemand Verdächtigen sieht«, flüsterte sie verschwörerisch.

Zum Zeichen, dass ich verstanden hatte, neigte ich den Kopf. Auch wenn ich ihre Übervorsichtigkeit nicht ganz nachvollziehen konnte. Im gleichen Flüsterton fragte ich: »Sie werden es mir doch trotzdem sagen, oder?«

Die alte Dame nickte hektisch. »Ja, ja. Komm, wir gehen an einen sicheren Ort.« Sie zog mich hinter sich her. Verdattert, aber vor Neugier gespannt, folgte ich ihr.

»Wo gehen wir denn hin?«

»Das wirst du gleich sehen.«

Damit musste ich mich wohl fürs Erste zufriedengeben. Denn eine bessere Antwort würde ich nicht bekommen. Diese Frau hielt nicht viel von klaren Aussagen.

Mondsüchtig | VerwandlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt