Prolog

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Hier stehe ich wieder, vor dem Verbotenen Wald. Niemand betritt ihn, nicht einmal wandernde Händler. Sie nehmen lieber den zwei Wochen längeren Weg um den riesigen, düsteren Wald herum, obwohl die Reise durch ihn nur eine Woche dauern würde. Doch nachts, wenn der Verbotene Wald im Mondlicht liegt, wirkt er noch bedrohlicher als bei Tag. Die Äste knarren, während der Wind durch sie fährt, und jedes Mal, wenn ich in die Dunkelheit des Waldes blicke, habe ich das Gefühl, dass er mich ruft.

Es heißt, wer einmal den Verbotenen Wald betritt, kehrt nie wieder zurück. Das haben uns unsere Eltern immer erzählt, wie auch deren Eltern ihnen. Jeder, der hineinging, verschwand spurlos – sogar die Suchtrupps, die ausgesandt wurden, um die Vermissten zu finden, sind nie zurückgekehrt. Deshalb ist es strengstens verboten, den Wald zu betreten.

Aber warum sehe ich dann, so wie heute in dieser sternenklaren Vollmondnacht, ein Licht zwischen den Bäumen? Ein Licht, das wie von einer Laterne leuchtet, immer an derselben Stelle. Es bewegt sich nie, und doch kann man es nur in Nächten mit Vollmond sehen. Ich weiß nicht, warum, aber seitdem ich es vor einem Jahr zufällig entdeckte, komme ich immer wieder hierher, um es zu betrachten. Das Licht zieht mich an, und ich spüre den Drang, in den Wald zu gehen. Jedes Mal kämpfe ich dagegen an, aber es wird immer schwerer, mich davon abzuhalten.

Heute ist dieser Drang stärker als je zuvor. Ohne es zu merken, habe ich bereits ein paar Schritte in den Wald gesetzt, als plötzlich ein Knacken ertönt – als wäre jemand auf einen Ast getreten. Panisch drehe ich mich um und renne zurück nach Hause, so schnell ich kann. Ich weiß, ich war gefährlich nah dran, den Wald wirklich zu betreten. Hätte ich mich noch einmal umgedreht, hätte ich gelbe Augen gesehen, die mich aus der Dunkelheit heraus beobachteten. Augen, die tief in den Geheimnissen des Waldes verborgen liegen – Geheimnisse, die ich eines Tages noch entdecken werde.

Unser Haus liegt nur etwa 500 Meter vom Waldrand entfernt. Wegen dieser Nähe meiden uns die Dorfbewohner, als wären wir ebenso verflucht wie der Wald selbst. Vielleicht haben sie recht. Mein Zwillingsbruder Finn und ich teilen nicht nur die gleichen schwarzen Haare – was an sich noch nichts Ungewöhnliches wäre – sondern auch eine Eigenart, die den Dorfbewohnern Angst macht: unsere violett leuchtenden Augen. Jedes Mal, wenn wir ins Dorf gehen, tuscheln die Leute hinter unserem Rücken.

Das Haus, in dem wir leben, ist alt. Mein Großvater hat es gebaut, und mein Vater hält es mit seinen Reparaturen einigermaßen instand, obwohl er kaum Zeit dafür hat, da er viel arbeiten muss, um uns zu ernähren. Unsere Familie, wie auch unsere Großeltern, sind einfache Bauern, und Finn und ich helfen so gut es geht auf dem Hof mit.

Gerade habe ich es geschafft, mich heimlich in unser Zimmer zu schleichen, das ich mit Finn teile. Doch bevor ich mich ins Bett legen kann, höre ich seine Stimme. „Warst du schon wieder beim Verbotenen Wald? Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dich von ihm fernhalten sollst?" Er schimpft, aber ich weiß, es ist nur aus Sorge um mich. Er hat Angst, dass ich eines Tages nicht mehr zurückkomme.

„Keine Sorge, ich werde immer zu dir zurückkehren", antworte ich beschwichtigend.

„Beim nächsten Mal komme ich mit, wenn du wieder dorthin gehst", erwidert er ernst.

„Ich weiß, ich weiß – damit du mich vor meiner eigenen Dummheit bewahren kannst. Immerhin bist du meine Stimme der Vernunft", sage ich und versuche, ihn zu beruhigen. 

Der Verbotene WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt