Kapitel 1: Ein ganz normaler Tag

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Die Morgensonne war gerade erst über die Hügel geklettert, als Kian und Finn bereits auf den Beinen waren. Der Tau glitzerte auf den Feldern, und die frische Kühle der Nacht hing noch in der Luft, doch auf dem Hof gab es immer Arbeit, die wartete. Während die Vögel in den Bäumen sangen, schlugen die beiden Brüder ihre Jackenkragen hoch und machten sich auf den Weg zu den Ställen.

„Hast du gut geschlafen?" fragte Finn, der wie immer etwas vor Kian lief, seine Schritte schnell und entschlossen.

„Geht so", brummte Kian und zog seinen Mantel fester um sich. Seine Gedanken kreisten immer noch um das Licht, das er gestern Nacht wieder im Wald gesehen hatte. „Ich hab' wieder von dem Wald geträumt."

Finn blieb kurz stehen, drehte sich um und musterte ihn streng. „Kian, du musst aufhören, daran zu denken. Du weißt, was Vater gesagt hat. Der Wald... er bringt nur Unglück."

„Ja, ich weiß." Kian seufzte. Finn war der Vernünftige von ihnen beiden, aber es war nicht einfach, den Wald zu ignorieren, wenn er so nah und doch so verboten war.

Als sie die Ställe erreichten, waren ihre Eltern bereits bei der Arbeit. Ihre Mutter stand gebückt über die Tröge und verteilte Futter für die Hühner, während ihr Vater gerade das Heu auf dem Wagen stapelte.

„Guten Morgen, ihr zwei!", rief ihre Mutter fröhlich und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Kommt, frühstückt erst mal, bevor ihr mit der Arbeit loslegt."

Die beiden setzten sich auf die alte Holzbank vor dem Haus, wo ihre kleine Schwester Lyra bereits mit einem Stück Brot in der Hand saß. Sie grinste breit, ihre braunen Augen funkelten verspielt.

„Ihr seid spät dran heute", neckte sie.

„Geh du mal so früh raus, wenn du krank bist", entgegnete Finn grinsend und nahm einen großen Bissen von dem Brot, das ihre Mutter ihnen gereicht hatte.

Kian schweifte mit seinen Gedanken ab, während er kaute. Er warf einen Blick in Richtung des Waldes, dessen dunkle Silhouette am Horizont lauerte. Niemand sprach offen darüber, aber jeder im Dorf wusste, dass er und Finn anders waren. Ihre violetten Augen zogen Blicke auf sich, egal wo sie hingingen. Im Dorf gab es kaum jemanden, der sie nicht misstrauisch ansah. Selbst hier auf dem Hof spürten sie das Gewicht der Vorurteile.

„Ich muss heute ins Dorf, um ein paar Sachen zu besorgen", sagte ihr Vater plötzlich, als er den Heuwagen belud. „Ich könnte eure Hilfe gebrauchen."

Kian und Finn tauschten einen Blick aus. Der Weg ins Dorf war nie angenehm. Nicht, weil es weit war, sondern wegen der Menschen dort.

„Ich komme mit", sagte Kian, bevor Finn antworten konnte. Er wollte seinen Bruder heute nicht damit belasten. Die Erkältung hatte Finn noch nicht ganz losgelassen, auch wenn er sich tapfer hielt.

„Gut. Dann machen wir uns nach dem Frühstück auf den Weg", sagte ihr Vater und klopfte sich den Staub von den Händen.

Das Dorf lag nur eine halbe Stunde entfernt, und der Weg dorthin war von Feldern und kleinen Wäldchen gesäumt. Kian und sein Vater gingen schweigend nebeneinander her. Die Anspannung in Kian wuchs mit jedem Schritt. Schon bevor sie die ersten Häuser erreichten, konnte er die Blicke der Dorfbewohner spüren. Es war immer das Gleiche. Menschen hielten inne, wenn sie vorbeigingen, flüsterten miteinander oder wechselten sogar die Straßenseite.

Als sie den Marktplatz betraten, wurde es deutlicher. Die Frau am Obststand warf ihnen einen misstrauischen Blick zu, als Kian an ihr vorbeiging, und der Bäcker, der normalerweise freundlich grüßte, tat, als sähe er sie nicht.

„Beeil dich", murmelte sein Vater leise, als sie vor dem Krämerladen standen. „Ich hole noch das Saatgut. Du besorgst das Mehl."

Kian nickte, trat in den Laden und hielt den Atem an. Hinter der Theke stand der alte Herr Wainwright, ein Mann mit grauem Bart und ständiger Stirnfalte. Seine Augen verengten sich, als er Kian sah, aber er sagte nichts. Stattdessen wandte er sich dem Regal hinter sich zu und zog den Mehlsack hervor, den Kian bestellt hatte.

„Das macht drei Silberstücke", sagte Wainwright knapp, ohne ihn anzusehen.

Kian griff nach dem Beutel, doch als seine Hand das Mehl berührte, spürte er plötzlich ein Kribbeln. Es war, als würde eine unsichtbare Kraft durch seine Finger fließen. Der Mehlsack rutschte ihm fast aus der Hand, doch er konnte ihn gerade noch festhalten. Wainwright starrte ihn an, als hätte er es bemerkt. Seine Augen waren jetzt schmal und voller Misstrauen.

„Du solltest vorsichtig sein, Junge", sagte er leise, fast bedrohlich. „Dinge geschehen, wenn man nicht aufpasst."

Kian spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment trat sein Vater ein. „Hast du alles?"

Kian nickte hastig, und sie verließen den Laden. Doch das seltsame Gefühl in seiner Hand wollte nicht verschwinden.

Als sie zurück auf dem Hof waren, versuchte Kian, das Erlebnis im Laden zu vergessen, doch die seltsame Energie ließ ihn nicht los. Während er und Finn den Stall ausmisteten, bemerkte er es wieder. Immer, wenn er etwas berührte, war es, als würde ein unsichtbarer Funke überspringen.

„Was ist los mit dir?" Finn sah ihn stirnrunzelnd an, als Kian zum dritten Mal einen Eimer umgestoßen hatte.

„Ich weiß nicht", murmelte Kian und hob den Eimer auf. „Irgendwas stimmt nicht."

„Das sagst du oft", entgegnete Finn und grinste. Doch dann wurde er ernst. „Vielleicht hat es mit dem Wald zu tun. Mit dem Licht, das wir sehen."

Kian schwieg. Finn sprach selten über das Licht im Wald, aber er hatte recht. Seitdem sie es das erste Mal gesehen hatten, geschehen seltsame Dinge – Dinge, die Kian nicht erklären konnte. 

Der Verbotene WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt