Ein Teppich aus Lügen

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»Ich habe wirklich noch für das Referat zu tun, Ivica. Ich kann nicht länger bleiben. Ein andermal lerne ich gerne auch endlich mal deinen Mitbewohner kennen. Es tut mir leid«, sagte Eleanor und gab ihm einen letzten Kuss, bevor sie die Wohnungstür öffnete und im Treppenhaus verschwand. Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche. Drei verpasste Anrufe von Diana. Verdammt.

Sobald die Tür ins Schloss gefallen war und sie sich außer Hörweite glaubte, blieb Eleanor stehen und rief Diana an.

»Hallo, du bist's ja endlich. Du wolltest dich doch melden wegen heute Abend!«, erklang Dianas Stimme aus dem Smartphone.

»Ja, ich weiß, es tut mir leid. Ich hatte noch eine Besprechung für ein Seminar. Heute Abend steht. Tut mir echt voll leid, dass ich mich erst jetzt melde. Ich muss noch ein paar Sachen für das Referat fertig machen und mach' mich dann auf den Weg.«

»Schon gut, hast dich ja noch gemeldet. Bis gleich dann«, sagte Diana.

»Bis gleich. Hab' dich lieb. Küsschen«, sagte Eleanor.

»Von mir bekommst du gleich auch erstmal ein Küsschen, Maus.«

Eleanor hetzte die Stufen hinunter zur Haustür. Die Luft draußen roch nach Regen auf Asphalt. Sie öffnete das Zahlenschloss ihres Rades, setzte den Helm auf und schwang sich in den Sattel. Die letzten Wochen war sie nur noch mit dem Rad unterwegs gewesen, auch wenn sie ein Semesterticket besaß. Bis vor ein paar Wochen hatte sie jedes Mal mit ihrem Schweinehund zu kämpfen gehabt, wenn sie das Rad aus dem Hof holen wollte, statt zur Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite zu gehen. Jetzt war das kein Problem mehr. Auch ihr restliches Sportprogramm hatte sie erhöht. Sie machte vier bis fünfmal die Woche eine gute Stunde Yoga. Ashtanga Yoga. Ziemlich anspruchsvoll, aber das machte ihr nichts aus. Ihr ging es einfach gut und sie hatte viel Energie. So war es also, wenn es einem einfach gut ging. Lange hatte Eleanor sich gefragt, wie sich das anfühlte. Sie kannte vor allem das Extrem durch ihre bipolaren Störung. Hypomanie wurde das genannt. Eine leichte Form der Manie, bei der die Betroffenen gehobene Stimmung und Antrieb hatten. Und Blödsinn machten. Viel Blödsinn. Eleanor hatte zum Glück die Kuscheltiere an ein Kinderheim verschenkt, die sie gekauft hatte. Wie viel lieber hätte sie das Geld für einen Urlaub gehabt. Ein paar Tage nach Köln fahren. Da wollte sie unbedingt einmal hin. Am liebsten zum Christopher Street Day, aber auch gerne so mal. Eigentlich war Köln gar nicht so weit von Saarbrücken entfernt, aber sie war trotzdem noch nie da gewesen.

Eleanor fuhr extra eine Strecke, bei der sie nicht bei Dianas Haus vorbeikam und erreichte aber schnell ihr Ziel. Die Saarbrücker Innenstadt war nicht groß, es war aber immer etwas los.

Sie schloss das Hoftor auf, schloss das Rad an und schob das Hoftor wieder zu. Dann drehte sie sich um und lief zur Haustür. Sie wohnte im Altbau direkt unterm Dach und es war Mitte Juli. Eleanor war froh, dass sie derzeit so selten zu Hause war. Eigentlich müsste sie zu Hause sein und das Referat für ihr Altertumswissenschaftenstudium vorbereiten, aber dafür hatte sie noch eine Woche Zeit. Normalerweise hätte sie zu diesem Zeitpunkt wenigstens schon die Literatur gelesen, aber diesmal eben nicht. Den Abend wollte sie lieber mit Diana verbringen und morgen würde sie dann etwas Zeit haben.

Eleanor sprang schnell unter die Dusche. So schnell das eben ging, wenn das Wasser ewig brauchte, um warm zu werden. Sie schamponierte ihr Haar. Waschen war nicht mehr viel Arbeit, seit sie ein gutes Stück abgeschnitten hatte, weil ihre Haare vom regelmäßigen Blondieren kaputt geworden waren. Das Wasser färbte sich türkis beim Auswaschen. Türkis - ihr neustes Experiment. Des Lilas war sie überdrüssig geworden. Sie hatte selten länger als zwei Monate dieselbe Haarfarbe.

Nach dem Föhnen, Anziehen und Schminken gönnte sie sich noch zwei Schneiben Toast mit veganer Salami und zog sich dann auch schon wieder ihre Schuhe an, um loszugehen. Den Teller ließ sie einfach neben der Spüle stehen. Bei den anderen. Sie sagte sich, dass sie das mal wegspülen würde, wenn sie mal länger zu Hause war.

Also ging es wieder aufs Rad und zu Diana.

Diana wohnte in einer WG mitten im Nauwieser Viertel, dem Studierendenviertel Saarbrückens. Eigentlich war es gar nicht mal so groß, aber Eleanor hatte sich schon oft genug dort verfahren.

Sie schloss ihr Rad an einer Straßenlaterne an, lief zur Tür und klingelte.

»Ja, hallo?«, tönte es durch die Sprechanlage.

»Ich bin's, Eleanor!«

Es summte und Eleanor drückte die Haustür auf.

An der Wohnungstür erwartete Diana sie schon in einem kurzen Kleid. In einem wirklich kurzen Kleid.

»Gut siehst du aus«, stellte Eleanor fest.

»Ebenso!«, entgegnete Diana.

»Ich dachte, ich mache mich heute mal ausnahmsweise ein bisschen zurecht«, log Eleanor. Eigentlich ließ sie alles, was nicht aufreizend war, in der hintersten Ecke des Schrankes liegen.

Die beiden gaben sich einen langen Kuss und Eleanor trat ein. Sie stellte ihre Stiefel neben der Tür ab und ging kurz ins Badezimmer.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Diana.

»Gerne ein Wasser«, antwortete Eleanor.

»Ich habe auch Wein. Sogar veganen«, schlug Diana vor.

»Oh, da sag' ich nicht nein.«

In der Küche grüßte Eleanor Dianas Mitbewohner Fawad.

»Ah hi«, war seine knappe Antwort, bevor er sich wieder seinen Nudeln widmete.

Die beiden Frauen machten es sich auf der Couch in Dianas Zimmer gemütlich. Diana legte den Arm um Eleanor und trank einen Schluck Wein.

»Nachdem du heute so fleißig warst, kannst du dir ja einen schönen Abend gönnen«, sagte Diana.

Eleanor biss sich auf die Lippe.

»Das klingt gut.«

»Hast du Lust, eine Serie zu gucken?«, fragte Diana.

Tja was sollte Eleanor sagen? Sie schauten eine Folge und landeten dann ziemlich schnell im Bett.

Wenn die Sonnentage vergehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt