Oliven und Thymian
Ruhe
Staub hing in der Luft. Erbarmungslos brannte die Sonne grell auf das kleine Städtchen nieder. Die sandsteinfarbenen, von der intensiven Sonne ausgeblichenen Mauern verschmolzen beinahe mit dem umliegenden Sand. Selbst die Kleidung der Menschen, die trotz der sengenden Hitze geschäftig auf dem Marktplatz umherliefen, war mit feinem Sandstaub bedeckt, sodass die ganze Szenerie wirkte wie ein einziges, kontrastloses Bild.
Doch still war es nicht. Ganz in Gegenteil. Händler priesen lauthals ihre Waren an. Frauen mit riesigen Körben auf den Köpfen und Männer mit wettergegerbten Gesichtern wuselten über den Platz. Kinder schlängelten sich spielend und schreiend zwischen den Beinen der Passanten hindurch, und brachten einen alten Mann zu Fall. Schimpfend rappelte er sich sich wieder auf und strafte einen Hund, der sich neben ihm im Staub wälzte, mit einem missmutigen Blick.
Niemand in dem Treiben beachtete den - wie alles andere auch - vom Sandstaub bedeckten Fremden, der sich verhüllt, und mit einem unförmigen Bündel unterm Arm umsah. Unbeobachtet zog er unter dem Stand des Orangenhändlers eine leere Kiste hervor, und trug sie bis hin zu dem vertrockneten Baum in der Mitte des Platzes. Außer dem Hund, der sich nun aufgerichtet hatte und ihn mit schiefgelegtem Kopf ansah, schenkte ihm noch immer niemand Beachtung.
Ein wenig unsicher löste er die Kordel von seinem Bündel. Zum Vorschein kam eine kleine Leier. Liebevoll strich er über das einfach bearbeitete Holz. Das Instrument war alt und abgegriffen, und an einigen Stellen wies das Holz sogar schon Flecken auf. Trotzdem war es eines der wenigen Dinge, die ihm mehr bedeuteten als vieles auf dieser Welt.
Er fand es schwer. Egal in wie vielen Städten und Dörfern er schon gewesen war, egal wie viele Lieder er schon gesungen hatte und noch singen würde. Es kostete ihn jedes Mal aufs Neue Überwindung seine Stimme zu erheben, den ersten Ton von sich zu geben. Doch wenn er seine Leier betrachtete, die feinen Rundungen, die zarten Saiten unter seinen Fingern spürte, dann kamen sie wieder, die Erinnerungen. Der Grund, weshalb er von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf zog und seine Lieder sang. Poesie war seine Stimme. Und bei diesem Gedanken kam der Mut ganz von allein.
Ein hauchfeines Lächeln zierte seine Lippen, als er auf die Orangenkiste stieg und seine Finger dem Instrument die ersten Töne entlockten. Das wunderschöne Gefühl von Vertrautheit erfüllte ihn, und er begann zu singen:
,,Kommt her, ihr lieben Fahrensleut
Hört was ich euch zu sagen!
Vom Land unterm Olivenzweig
Von heut, und aus längst vergangenen Tagen."
Schwach wehte seine Stimme über den Marktplatz. Nur wenige Menschen drehten sich zu ihm um, und noch weniger blieben stehen. Er holte tief Luft. Noch einmal wiederholte er die erste Strophe, diesmal lauter, mit mehr Kraft und Sicherheit in der Stimme. Irgendwo rief jemand ,,Hört, hört!", und bald hallte der Ruf in der Menge wieder. Immer mehr Augenpaare wurden nun auf den verhüllten Sänger gerichtet, der seinem Instrument wohlklingende Töne entlockte, und von fernen Ländern zu berichten wusste. Die sich versammelnden Zuschauer gaben ihm neues Selbstbewusstsein, und als er sich der Aufmerksamkeit der Menge sicher war, begann er wieder zu singen:
,,Von dem, was war, und was noch ist
Weiß ich zu berichten
Drum kommt herbei, ihr lieben Leut
und lauscht meinen Geschichten
In goldnem Glanz vom Himmel strahlt
Die alte Mutter Sonne
Hütet liebevoll ihr Kind, die Erd
Seit die Tage haben begonnen
Unverändert, strahlend schön
Verteilt sie überall ihr Licht
Beschenkt jeden; Pflanzen, Mensch und Tier
Denn Ungleichheit kennt sie nicht
In jenem Land wächst das Gras dicht
Auf den Wiesen Blumen blühen
Bienen summen, das Herz geht auf
Bei der Oliven Immergrün
Wie weiße Blumen zwischen Gras
Weiden Schafe auf den Hügeln
Die Vögel singen ihr lieblich Lied
Leise rascheln ihre Flügel
In weiter Ferne rauscht das Meer
Glitzernd brechen sich die Wellen
Der Geruch von Salz hängt in der Luft
Durch die Möwenschreie gellen
In diesem Land, so strahlend schön
Graute klar und frisch der Morgen
Und mit der Sonn' stand Amal auf
Fröhlich, frei von allen Sorgen
Von Morgens früh bis Abends spät
Streifte sie durch Felder und durch Wiesen
Wo sie auch ging hörte man Vögel singen
Sah die Halme zu ihren Füßen sprießen
Jeder Stein und jedes Blatt
Betrachtete sie warm, mit so viel Liebe
Und Olivenbaum und Thymian
Säumten schützend ihre Wege
Die alten Mauern ihres Heims
Erzählten wispernd so manch Geschicht
Grüßten Amal, kam sie vorbei
Und lächelten warm im Kerzenlicht
Und abends, bei hellem Feuerschein
Setzte sie mit ihrem Sohn sich nieder
Der Klang der Leier verträumt und schön
Spielte ihr Gefährte Ali seine Lieder
Seit vierzig langen Jahren schon
War dort ihr Heim, war dort ihr Land
Ihr Frieden, ihre Sicherheit
Alles, was sie je gekannt
Doch langsam, erst wenig, dann immer mehr
Zogen Schatten übers Land."