Erinnerung
Hoch, tief, schnell, langsam. Die Töne schwebten durch die Luft. Sein Herz pochte im Takt der Musik. Mal ruhig, mal schmerzhaft, abwechselnd in schneller und langsamer Folge. Manchmal wunderte er sich, wie eine einzelne Brust eine solche Gewalt an Leben in sich aufnehmen konnte.
Die ersten Leute gingen. Für sie war das Lied zu Ende. Das war nun mal so, da konnten sie nichts machen. Sie hatten Besseres zu tun.
Mit jedem Menschen, der den Platz verließ, spürte der Sänger einen weiteren, winzigen Stich in seinem Herzen. Nein, sein Lied war noch nicht zu Ende. Er wollte sich nicht mit einem traurigen Ende abfinden. Er wollte noch weitere Zeilen, Seiten schreiben, sich auf unerwartete Wendungen und neue Möglichkeiten einlassen, bis hin zum Happy End - oder bis zum letzten Tintentropfen. Beendete Geschichten gerieten in Vergessenheit. Er wollte das nicht. Darum schrieb er weiter.
Er setzte zu dem - fürs Erste - letzten Abschnitt seines Liedes an, und das Murmeln, das inzwischen laut geworden war, ebbte wieder ab. Er holte tief Luft.
,,Doch die Erinnerung lebte weiter
An Amal und an ihr Land
In Ali und in ihrem Sohn
In allen die sie gekannt
Denn alte Wurzeln reichen tief
Hinein in die geliebte Erde
Kein Frost kann sie je erreichen
Sie können nicht ausgerissen werden
"Die Alten sterben, die Jungen vergessen"
So taten sie es ab
Doch nein, sie haben sich geirrt
Wir vergaßen niemals, keinen Tag
Denn jeden Tag es weitergeht
Amals Geschichte sich wiederholt
Wie können wir vergessen wenn sich Gewalt
Jeden Tag neue Opfer holt?
Drum bitt ich: Frieden für ein Land
Das für Frieden ward geschaffen
Doch hat ihn nie gesehen
Drum Friede! Ruf' ich euch hinzu
Lasst uns wie Menschen leben!"
Auf dem Platz war es still geworden. Ein Windhauch strich durch die dürren Zweige über ihm und verlieh seinen Worten Nachdruck. Seine eigenen Verse schmeckten bitter auf seiner Zunge. Nicht die Worte selbst, nein. Sondern die Not, sie auszusprechen.
Friede. Ein so wunderschönes Wort. Ein Recht, das jedem Menschen auf dieser Welt zustand, bedingungslos. Menschen wurden frei geboren, ebenbürtig. Und doch wurden so viele von der Blindheit erfasst, jener Krankheit des Herzens die auf allen Seiten einzig und allein Abgründe öffnete. Tiefe, schwarze Feuerschluchten, ohne Aussicht auf Entkommen. Friede, Freiheit. Es war erschreckend, wie sehr diese Grundlagen des Lebens zum Privileg geworden waren.
Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten, und wandte sich nun langsam gen Westen. Sehnsüchtig blickte er zu den fernen, kahlen Hügeln. Dahinter lag ein Fluss, und hinter dem Fluss blühten die Oliven- und Orangenbäume. Er hätte alles gegeben, um über die Grenzen zu kommen. Doch so begnügte er sich damit, Grüße aus der Ferne hinüberzusenden. Ein verzweifelter Liebender, getrennt von seiner Liebsten. Doch nicht für immer, sagte er sich.
,,Dort im Westen, hinter Hügeln
Blühen die Oliven so wunderschön
Die Sonne geht jeden Abend unter
Und verspricht ein Wiedersehen
Mein Lied mag nun zu Ende sein
Doch nicht so die Geschicht'
Das letzte Wort ist noch nicht geschrieben
Noch scheint in der Dunkelheit ein Licht."
Seine Finger spielten den letzten Takt. Die letzte Aufforderung zuzuhören, zu verstehen. Dann verstummte auch die Leier.
Die Leute applaudierten. Einige wenige warfen ihm sogar Münzen auf den Boden vor der Kiste. Er bedankte sich mit einem höflichen Nicken. Und dann gingen sie. Die Leute hatten ihr Lied bekommen, ihre Abwechslung gehabt. Nun gingen sie wieder ihren Geschäften nach, ihrem Alltag. Für sie war es eine Attraktion gewesen, eine Show. Weiter nichts. Er sang nicht für Geld.
Enttäuscht setzte sich der Sänger auf seine Kiste, legte ermüdet das Gesicht in die Hände. Was hatte er erwartet? Dass jemand auf ihn zukam? Ihn ansprach, ihn nach dem Grund für sein Lied fragte? Er hatte es gehofft, so sehr. Er war schon in so vielen Städten und Dörfern gewesen, und doch hoffte er noch. Jedes Mal aufs Neue. Es ermüdete ihn, doch es war das einzige, an dem er sich noch festhalten konnte. Er konnte nicht zulassen, dass das Glas erneut unter seinen Fingern zerbrach.
Etwas berührte ihn sanft am Arm und ließ ihn aufschauen. Da stand der kleine Junge mit den nachtschwarzen Augen und sah ihn fragend an. Überrascht lächelte der Sänger ihm zu. Der Junge erwiderte es nicht. Da erinnerte er sich an den Schleier. Er löste ihn, und zum Vorschein kam junges, fein geschnittenes Gesicht mit sanften Zügen, die durch ein freundliches Lächeln erhellt wurden. Zaghaft zogen sich nun auch die Mundwinkel des Jungen nach oben. Er schien seinen ganzen Mut zusammenzusuchen, und stellte die Frage, die ihm scheinbar auf dem Herzen lag. ,,Ist Amal nicht wieder in ihr Land zurückgegangen?"
Der Sänger schüttelte den Kopf, sein Lächeln nahm kaum merklich eine bittere Note an. ,,Nein, mein kleiner. Ist sie nicht". Eine tiefe Trauer erfüllte ihn.
Der Junge sah ihn noch immer an. ,,Bist du Ali?"
Fast glaubte er sich zu irren, doch er hörte sich leise lachen. ,,Nein, ich bin nicht Ali. Der lebt weit weg von hier und passt auf Amal auf". Jeden Tag goss er die Blumen auf ihrem Grab. Wie sehr er seine Eltern vermisste.
,,Aber er wird doch eines Tages zurückgehen, oder? Ali meine ich, zusammen mit seinem Sohn. Sie werden doch nach Hause gehen?"
,,Natürlich werden sie das". Seine Stimme war zuversichtlich. Ja, er glaubte daran, mit aller Kraft seines Herzens. ,,Sie werden zurückgehen und ein neues, noch schöneres Haus bauen."
Die Augen des Jungen glänzten. ,,Und kann ich sie dann besuchen kommen? Ich möchte so gerne mit dem Jungen spielen!"
Der Sänger lachte. ,,Aber sicher doch! Sie würden sich sehr über deinen Besuch freuen."
Mit seinem hellen Stimmchen stimmte der Junge in das Lachen mit ein. Da hatte er es plötzlich eilig fortzukommen.
,,Ich werde meiner Mama die ganze Geschichte von Amal erzählen! Ich werde ihr sagen, dass wir Ali besuchen gehen können. Danke, dass du uns dein schönes Lied gesungen hast. Auf Wiedersehen!"
Lange sah er dem Jungen nach, der freudig die Straße hinaufrannte, selbst als er schon um eine Ecke gebogen war. Er hatte das Schweigen gebrochen, die Barrieren überschritten. Ein Lächeln zierte die Lippen des Sägers, während er seine Leier wieder in das Sacktuch wickelte. Diese Kinder, dachte er, sie würden erwachsen werden und neuen Mut, neue Frische mit sich bringen. Ja, Kinder wie dieser Junge - sie waren die Hoffnung der Zukunft.