1. Kapitel: Philadelphia

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Eine wackelnde Hulapuppe mit Bastrock, eine Miniaturausgabe der Golden Gate Bridge und ein Collegeblock mit verschiedenfarbigen Textmarkern – Erinnerungen an ein Leben, das mir in diesem Moment schon weit weg erschien.

„Wir verstehen, dass diese Situation für Sie nicht leicht ist. Seien Sie versichert, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um Ihnen den Übergang so angenehm wie möglich zu gestalten", hatte der Mann am anderen Ende des Landes gesagt.

Ich saß in einem spärlich beleuchteten Raum. Die schlechte Verbindung ließ sein Gesicht auf dem kleinen Bildschirm vor mir grotesk aufflackern. Ich dachte, er wollte mir die Wahrheit sagen – wie unfair das Leben nur allzu häufig sein konnte, wie enttäuschend. Doch ihm kamen keine anderen Worte über die Lippen außer denen, die schon viele meiner Kollegen vor mir hören mussten. Es tut uns leid waren keine davon.

Der Mann am anderen Ende der Leitung verlor ja auch nicht seinen Job. Er war nur irgendein externer HR-Mensch, der uns alle nicht einmal kannte. Nach einem Jahr, in dem ich wirklich hart gearbeitet und alles gegeben hatte, fanden sie keine anderen Worte für mich außer einem Verweis auf die Broschüren vor mir. Sie sollten mir die Motivation geben, nicht in der Niedergeschlagenheit steckenzubleiben, nach vorn zu blicken, eine Perspektive zu haben, auch wenn es mir im Moment so vorkam, als gäbe es kein Licht mehr am Ende des Tunnels.

Also packte ich meine Sachen in einen kleinen Karton und lief zum Aufzug, der mich in eine Welt voller Ungewissheit entlassen sollte.

Die von Sonnenlicht durchflutete Lobby hatte sich an diesem Tag in einen düsteren Ort des Chaos verwandelt. Eine Empfangsdame war dabei, alles, was in Reichweite lag, in Boxen zu verstauen. Sie legte auf besondere Sorgfalt keinen Wert. Bildschirme wurden mitsamt den Kabeln aus ihren Halterungen gerissen.

„Ist doch unglaublich, was hier passiert", beschwerte sie sich lautstark bei mir. „Sollen sie doch alle zur Hölle fahren! Wenn sie mir meinen Lohn nicht geben wollen, nehme ich mir eben, was ich kriegen kann."

„Dafür werden Sie aber mehr als ein paar Bildschirme brauchen", antwortete ich entgeistert.

Unsere Löhne hatten sie schon seit einiger Zeit nicht mehr gezahlt. Wir dachten, es sei temporär – dass es uns, wenn wir nur genug arbeiten würden, bestimmt bald wieder besser ginge. Falsch gedacht. Keinen Cent würden wir jemals davon sehen.

„Sie haben sich verzockt. Sollen alles auf das falsche Pferd gesetzt haben, und wir sind jetzt die Leidtragenden." Ein etwas älterer Kollege war Zeuge unserer Unterhaltung geworden und stimmte nun in die Anschuldigungen mit ein.

„Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll", erwiderte ich.

„Schätzchen, das weiß keiner von uns."

Das hier hätte mein Neuanfang sein sollen. Philadelphia. Eine fremde Stadt, fernab von allem, was ich kannte. Ich hatte mich auf meinen Job konzentriert, nichts anderes war wichtig gewesen. Ich hatte keine Freunde, und das, obwohl ich diese Stadt schon seit einem Jahr mein Zuhause nannte. Meine Familie war an der Westküste im immer sonnigen Kalifornien geblieben. Und ich hatte keine Bekanntschaften, schon gar keine romantischen.

Und das alles für einen langweiligen Bürojob, bei dem ich den ganzen Tag nichts anderes getan hatte, als ahnungslosen, unbedarften Menschen Versicherungen aufzudrängen, die sie nicht einmal brauchten – nichts, worauf ich wirklich stolz war, doch ein notwendiges Übel. Und nun setzten sie uns, ohne mit der Wimper zu zucken, vor die Tür, weil sie Insolvenz angemeldet hatten.

Seufzend ließ ich die beiden und die sich rasch leerende Lobby hinter mir und ging zum letzten Mal durch die vergoldete Drehtür, hinter der mich der kalte Atem des Winters rücksichtslos empfing.

The Way to Your Heart (ehem. Turnpike) // LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt