Livia betrachtete nachdenklich ihre Hand. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr war schrecklich langweilig. Sie lag in ihrem Bett und starrte die Decke an. Wenn doch bloß etwas passieren würde, nur eine kleine Änderung in dieser mickrigen Welt. Aber das war nur Wunschdenken. Es würde sich eh nie etwas ändern. Jeder Tag würde immer der gleiche sein. Sie hatte sich schon längst daran gewöhnt und hatte sich nie beschwert.. Aber sie wollte nicht den ganzen Tag das tun, was sie jeden Tag tat. Sie versuchte immer, aus jedem Tag etwas besonderes zu machen. Nur leider war das nicht so einfach, wenn jeder Tag gleich war.
Und leider war sie die einzige, die so dachte. Alle ihre Freundinnen, von denen sie ohnehin nur wenige hatte, verstanden sie nicht. Sie warfen ihr merkwürdige Blicke zu. Wahrscheinlich dachten sie, dass sie undankbar wäre. Aber das stimmte nicht, Livia war froh, in Frieden zu leben, aber das hieß nicht, dass sie keine Fantasie hatte, keine eigenen Träume.
Sie war eine Außenseiterin.
Aber das machte ihr nichts aus. Gab sie jedenfalls den anderen zu verstehen. Aber in Wahrheit machte es sie traurig, dass keiner ihrer Freunde sie verstanden. Fast keiner.
Livia hatte eine einzige Freundin, die zu ihr hielt. Amy, ihre beste Freundin, hielt immer zu ihr. Sie war nicht wie Livia, aber sie war auch nicht wie die anderen. Sie war genauso unabhängig von den anderen wie Livia selbst. Und das mochte Livia an ihr. Amy akzeptierte Livia, so wie sie war, weil sie in der selben Situation war wie sie.
Livia seufzte und richtete sich langsam auf. Sie hatte sehr lange nachdenklich im Bett gelegen, und wenn sie eine ruckartige Bewegung gemacht hätte, wäre ihr schwindelig geworden. Sie ging langsam durch ihr Zimmer auf die Fenster zu. Von dort aus konnte man auf einen wunderschönen Wald blicken, in dem sie schon oft gewesen war. Livia seufzte ein zweites Mal und machte es sich auf ihrer Fensterbank gemütlich. Seit sie denken konnte, hatte sie es geliebt, dort zu sitzen, weshalb ihre Eltern ihr dort eine Sitzecke eingerichtet hatten. Sie liebte es einfach, in aller Seelenruhe dort zu sitzen und vor sich hin zu träumen, mit Kopfhörern, die laute Musik von sich gaben. Der Wald war einfach magisch. Und obwohl sie wusste, dass Magie nicht existierte, hatte er eine magische Atmosphäre. Sie seufzte ein drittes Mal und stand ein weiteres Mal auf. Das brachte alles nichts, heute würde sie sich sowieso nur langweilen, wenn das so weiter ging. Bei diesem Gedanken musste Livia ein viertes Mal seufzen. Und kurz darauf musste sie lachen. Sie stellte sich an, als würde sie, wie im amerikanischen Filmen, sehnsüchtig aus dem Fenster schauen und auf ihrem Geliebten warten.
Der Tag war nicht schlimmer als all die anderen Tage, und dennoch fühlte sich etwas anders an. Livia konnte nicht beschreiben, was genau es war, aber etwas war nicht so wie sonst. Es lag etwas Beunruhigendes in der Luft. Etwas großes, mächtiges, dass alles auf den Kopf stellen würde. Das wäre die eine Möglichkeit, die andere wäre, dass Livia in letzter Zeit zu viele Bücher gelesen hatte, und noch nicht ganz wach war. Sie entschied sich für Theorie zwei.
Um einen klaren Kopf zu kriegen, entschied sie sich, in dem Wald ein bisschen Laufen zu gehen. Sie musste einfach auf andere Gedanken kommen. Sie verließ also gemütlich ihr Zimmer und gab ihren Eltern Bescheid. Die waren einverstanden, solange sie pünktlich wieder Zuhause war. Ihr Bruder wollte immer mit in den Wald, er war genauso vernarrt in ihn wie Livia selbst, trotzdem nahm sie ihn nie mit. Sie konnte nicht sagen, warum, aber im Wald wollte sie alleine sein.
Sie fühlte sich dem Wald auf irgend eine Weise verbunden, dass die Vorstellung fast quälend war, längere Zeit nicht dort zu sein.
Livia wusste nicht, wo der Wald endete, er war zu groß, und sie hatte ihn auch nie ganz durchquert, weil das schier unmöglich war. Manche munkelten, der Wald wäre unendlich. Auch wenn Livia ihnen das nicht abkaufte, erwischte sie sich manchmal bei dem Gedanken, es könnte doch so sein. Viele Menschen hatten schon versucht, den Wald zu kartographieren, aber es war noch niemanden gelungen, was sehr merkwürdig war. Alle, die es versucht hatten, kamen schon nach einigen Minuten zurück mit der Erklärung, die hätten etwas vergessen. So ging das immer weiter, bis niemand es mehr versuchte, und sich damit zufrieden gab, dass man es nicht konnte.
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Forlorn- Die Ferne
AdventureAls Livia ein merkwürdiges Summen hörte, wusste sie direkt, dass etwas nicht stimmte. Aber wenn sie zu dem Zeitpunkt gewusst hätte, was auf sie zukommen würde, hätte sie nie wieder den Wald verlassen. #5 forest (Stand 25.09.2021) #29 adventure (Stan...