Forlorn- Die Ferne

Kapitel 2

Es war, als würde Livia aus einem Albtraum erwachen. Nur, dass es kein Albtraum war. Es war Realität, und das wusste sie ab dem ersten Moment, in dem sie die frische Luft einatmete, die ihre Lungen in sich aufnahm.

Die Luft, die so nach Rauch und verbranntem Holz roch.

Sie nahm es noch vor der Gestalt wahr, die über ihr hockte, die so vertraut war und so nach Zuhause roch. Erst nach wenigen Atemzügen bemerkte sie, dass es ihr Bruder war.

Sie richtete sich sofort auf und sah sich um. Ein bisschen Hoffnung steckte immer noch in ihr, dass das alles doch nur ein Traum gewesen sein könnte und der Geruch nur die Nachwirkung des Traums war, aber als sie die verbrannten Häuser sah, verflog sie wie ein Windhauch.

Dann sah sie ihren Bruder an, sein vertrautes Gesicht, und erst dann bemerkte sie die Tränen in seinen Augen. Sie umarmte ihn, und so stürmisch wie er sie zurück umarmte, wusste sie, dass etwas noch Schlimmeres vorgefallen war. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und blickte in seine verheulten Augen. Sie erschrak ein bisschen, weil so viel Trauer in seinem Blick lag und wollte erst gar nicht wagen, die Frage zu fragen, die ihr so auf der Zunge brannte. Doch sie wusste, dass sie fragen musste, anders konnte sie nicht herausfinden, was der Grund für seine Aufgelöstheit sein könnte. „Was ist passiert?".

Sie wusste, eigentlich müsste er sie das fragen, schließlich war sie die Ältere von ihnen, aber sie war so verwirrt, dass sie gar nicht klar denken konnte.

„Ich weiß es nicht! Ich war mit Mama und Papa zu Hause, wie immer. Und plötzlich hat dieses komische Summen angefangen. Ich hab auf Mamas und Papas Gesichtern gesehen, dass etwas Schlimmes passiert ist, aber ich wusste nicht, was. Sie haben sich so komisch angeguckt und dann haben sie mir gesagt, ich solle mich verstecken. Sie haben mich in einen Schrank geschoben und die Tür fest zu gemacht. Ich habe gehört, wie sie deinen Namen gerufen haben, aber du warst ja im Wald spazieren und konntest sie nicht hören. Und dann hab ich so eine Frauenstimme gehört, die klang voll böse, und hat zu Mama und Papa gesagt, sie wäre jetzt frei und würde Rache nehmen oder so was. Dann hat die auch noch nach dir gefragt, glaube ich, sie hat nämlich gefragt wo denn ihr liebes Töchterlein wäre, oder so ähnlich. Jedenfalls habe ich mir dann die Ohren zugehalten, und als ich irgendwann die Hände von den Ohren genommen habe, konnte ich sie nicht mehr hören. Und als ich aus dem Schrank geklettert bin, war niemand mehr da. Ich glaube diese Frau hat Mama und Papa mitgenommen, und ich konnte nichts machen. Ich konnte überhaupt nicht helfen.".

Eine Träne rollte über seine Wange, die er aber gezielt wieder wegwischte, er war schon immer der Meinung gewesen, dass er ein Mann war, und Männer weinen laut ihm nicht. Livia hielt das für Schwachsinn. Wenn man weinen musste, musste man weinen, egal welches Geschlecht man war. Aber er war nun mal ihr kleiner Bruder, und wusste sowas noch nicht.

Er hatte schon immer das Bedürfnis gehabt, Menschen zu helfen, sei es, sein Brot zu teilen, aber auch in schwierigen Situationen, wie in dieser, auch wenn er erst 11 Jahre alt war.

„Jedenfalls bin ich dann rausgerannt, aber da waren Mama und Papa auch nicht, da warst nur du, hast auf dem Boden gelegen, und ich dachte schon, du wärst tot oder.".

Er atmete zitternd ein und Livia bemerkte, dass er kurz vor einer Panikattacke stand. Sie kannte diese nur zu gut, und wusste, was die Anzeichen waren. Sie nahm ihn in den Arm, drückte ihn fest an sich und flüsterte ihm beruhigende Worte zu. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es für einen 11-Jährigen sein musste, zu denken, er hätte seine gesamte Familie verloren. Und seine eigene Schwester bewusstlos auf dem Boden liegen zu finden, und nicht zu wissen, ob sie noch lebte, würde wohl jeden  erschüttern.