Erschrocken schlug ich die Augen auf. War ich etwa eingeschlafen? Es war mir unerklärlich, wie ich nach allem was passiert war so einfach hier auf dem Waldboden einschlafen konnte. Ich hatte es nicht einmal bemerkt. Die Morgensonne schickte goldene Strahlen zwischen den Baumstämmen hindurch. Ich wollte einfach alles vergessen. Wollte glücklich die Augen schließen. Die wärmende Sonne auf meinem Gesicht spüren. Den Tag mit einem Lächeln beginnen. Nach Hause gehen. Normal weiterleben. Doch ich wusste, dass mein Leben nie wieder normal sein würde. Alles hatte sich verändert. Mit bissiger Ironie dachte ich an das Lied "Au revoir". Es wird nie mehr sein, wie es war. Doch ich konnte nicht lachen. Ich fragte mich, ob ich das jemals wieder können würde. Vielleicht sollte ich mich umbringen. Dann würde mein Leiden nicht so lange andauern.
Zitternd stand ich auf. Mein Körper hatte sich beruhigt, doch er schmerzte von der verrenkten Haltung, in der ich geschlafen hatte. Was sollte ich jetzt tun?
Plötzlich durchzukte ein so starker Schmerz mein Herz, dass ich laut aufschrie und erneut auf den Boden stürzte. Mein Herz setzte einen Schlag aus, dann begann es zu rasen. Es schlug so schnell, wie es vorhin nach dem Laufen hätte schlagen müssen. Noch schneller. Der Schmerz war unerträglich und ich schrie ununterbrochen. Es fühlte sich an als hätte man mir ein glühendes Eisen in die Brust gerammt. Mir wurde schwindelig und mein Kopf begann wehzutun. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen. Ich hatte das Gefühl, als würde ich bald das Bewusstsein verlieren. Mein Schrei verwandelte sich in ein animalisches Jaulen. Ich fühlte mich wie ein verletztes Tier, was ich in gewisser Weise ja auch war. Gerade als sich meine Augen nach oben drehen wollten und die schwarzen Punkte fast mein ganzes Sichtfeld ausfüllten, schwächte der Schmerz ab. Mein Jaulen war zu einem kraftlosen Keuchen verstummt. Als der Schmerz fast aufgehört hatte, blitzte er ein letztes mal aus und lief wie ein Stromschlag durch meinen gesamten Körper. Jede Muskel, jeder Nerv, jede Zelle wurde von gleißenden Schmerzen durchzuckt. Dann war es vorbei.
Die Situation hatte nicht mal zwei Minuten gedauert, doch es hatte sich angefühlt wie Stunden. Oder Tage. Keuchend stieß ich den Atem aus. Ich wollte mich nicht bewegen, aus Angst, dass die Schmerzen wiederkommen würden. Mit schreckgeweiteten Augen lag ich dort. Ich war erstarrt. Nicht mal Blinzeln wollte ich. Schließlich begannen meine Augen zu brennen und meine Lider senkten sich automatisch. Ich wollte meine Augen nicht schließen. Ich wollte auf alles was jetzt kam, vorbereitet sein. Ich wollte sehen, was auf mich zukam. Obwohl ich wusste, dass ich das Kommende nicht sehen könnte, musste ich daran festhalten. Gab es denn nichts, was mir Halt geben könnte? Verzweifelt huschten meine Gedanken hin und her. Sie suchten etwas, an das ich mich klammern konnte. Das mir helfen würde, das zu überstehen, was kommen würde. Markus. Mein Bruder. Ich durfte nicht zulassen, dass ihm etwas zustößt. Ich durfte nie wieder zu meiner Familie zurückkehren. Anders konnte ich sie nicht retten. Ich konnte sie nur beschützen, indem ich sie von mir fernhielt.
Erneut liefen Tränen meine Wangen hinunter. Ich durfte sie nie wiedersehen. Niemals. Mein Leben war perfekt gewesen. Bis mir alles genommen wurde. Bis mir meine Familie genommen wurde, meine Freunde. Ich selbst wurde mir genommen.
Ich holte einmal tief Luft und drängte die Tränen zurück. Sie brachten mich nicht weiter. Ich schlug meine nassen Augen auf. Vorsichtig, als würde eine schnelle Bewegung die Schmerzen zurückbringen, stand ich auf.
Ich musste hier weg. Meine Familie würde nach mir suchen. Wenn sie mich finden würden, wüsste ich nicht, wie schlimm die Folgen sein würden. Wahrscheinlich unerträglich. Ich wollte es mir nicht vorstellen.
Auf einmal spürte ich, dass ich beobachtet wurde. Langsam drehte ich den Kopf nach links. An der Straße hatte in Auto angehalten. Mein Gott, was macht die denn da? Ich erschrak. Meine Vermutung, dass ich die Gedanken anderer Menschen hören konnte, festigte sich. Ein Mann, ungefähr 40 Jahre alt, stieg aus dem Wagen und sah mich an. Die sieht ja echt aus könnte sie Hilfe gebrauchen...
"Was machst du denn hier? Soll ich dich ein Stück mitnehmen?"
***
Rückblick:
Ich war wirklich beunruhigt. Nervös und unkonzentriert trottete ich hinter meinen Eltern her. Markus lief neben mir. Ich war zerstreut und merkte erst einige Zeit später, dass er etwas gesagt hatte. "Äh, was?", fragte ich entschuldigend, jedoch nicht ganz bei der Sache. "Vivi! Ist alles in Ordnung? Du siehst echt fertig aus. Ich meine, mehr als gewöhnlich." Er grinste mich unsicher an. Als ich nicht lachte, wurde er sofort ernst. "Was ist los?" Ich seufzte. Er merkte einfach alles. Deswegen liebte ich ihn ja auch so. Ich zog mein Handy aus der Tasche, öffnete die erste SMS und zeigte sie ihm. Er las sie und meinte: "Vielleicht nur ein dummer Streich?"
"Das hab ich auch schon gedacht. Und dann kam das" Ich öffnete die zweite SMS und zeigte sie ihm. Beim Lesen weiteten sich seine Augen. "Was hat das zu bedeuten?" Er sah mich erschrocken an. "Ich weiß es nicht. Aber vielleicht hat das auch gar nichts zu sagen. Das ist bestimmt nur Melli... Sie wusste wahrscheinlich, dass ich ihr nach der ersten Nachricht auf die Schliche kommen würde." Ich merkte, dass das gar nicht so abwegig klang. "Klar, so muss es sein." Ich lächelte Markus an. Er lächelte zögernd zurück und lief weiter geradeaus. Ich konnte förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Ich knuffte ihn in die Seite, sodass er fast umfiel. "Mach dir keine Gedanken, okay?" Wir blieben stehen. Ich sah ihm tief in die Augen. "Okay?" Er sah mich lange an, bis seine Zweifel aus seinen Augen wichen. "Okay." Ich lächelte und wuschelte ihm durchs Haar. Er duckte sich weg und versuchte, ebenfalls an meinen Kopf zu kommen. Ich lachte und sprang zur Seite. "Du musst dich schon etwas mehr anstrengen!" Ich streckte ihm die Zunge raus und begann zu rennen. Es war alles so einfach, wenn ich mit ihm zusammen war. Dann konnte ich einfach nochmal jünger sein, aus allen Verpflichtungen und Erwartungen fliehen. Eigentlich war ich eine sehr schnelle Läuferin, doch meine Gedanken hatten mich abgelenkt, sodass ich langsamer geworden war. Wie ein Blitz schoss mein Bruder seitlich in mich hinein und wir fielen beide auf den Waldboden, der glücklicherweise gut mit Moos bewachsen war. Wir lachten beide, bis mir die Tränen kamen.
Die SMS hatte ich völlig ausgeblendet. Hätte ich sie doch nur ernst genommen...
***
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Du bist nie allein
Mystery / ThrillerKönntest du leben, in dem Wissen, dass du nie alleine bist? Niemals? Dass sich etwas in deinem Körper eingenistet hat, was du weder kennst noch verstehst? Vor dem du Angst hast? Das dich verändert? Das mit dir kämpft? Das viel stärker ist als du sel...