Louise

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Früher hatte sie sich immer über die Liebe ihres Bruders zu seinen alten Pokémonspielen lustig gemacht. Die Grafik auf dem Game Boy Color war verglichen zur Grafik auf modernen Geräten echt schlecht. Selbst ihre Smartwatch hatte ein besseres Bild als der Bildschirm des Game Boy. Und doch saß sie nun Tag für Tag stundenlang an diesem elektronischen Gerät, durch dessen durchsichtige Hülle sie die Bauteile im Inneren sehen konnte und spielte Pokémon Kristall-Edition. Sie hatte schon längst die Liga und alle sechzehn Orden gemeistert. Anfangs war es für sie echt ein Krampf gewesen, vor allem das Miltank der Leiterin in Dukatia City hatte sie viele Stunden und Tränen der Verzweiflung gekostet. Irgendwann hatte sie den Dreh jedoch raus und schaffte inzwischen alles ohne Probleme. Nun reiste sie umher und versuchte, das legendäre Trio zu komplettieren. Suicune und Raikou hatte sie bereits. Fehlte noch Entei, das Feuerpokémon. Und da war es – endlich. Dank ihres Iksbat mit Horrorblick würde es auch nicht fliehen können. Nicht dieses Mal, sie hatte schließlich aus ihren Fehlern gelernt. Und na ja, das Internet hatte ihr verraten, wie sie die Wanderpokémon am Fliehen hindern konnte.

„Louise, wie oft muss ich dir noch sagen, du sollst während des Unterrichts nicht spielen?", erklang die strenge Stimme ihrer Lehrerin, Madame Mendeleiev. „In meinem Unterricht wird aufgepasst. Ich habe ja Verständnis dafür, dass dich der Tod deines Bruders mitgenommen hat. Aber zu viel ist zu viel", nahm ihr die mürrische Frau mit spitzem Kinn den Game Boy aus der Hand. „Aber Madame, ich...", begann die Schülerin. „Kein Aber! Wir haben gerade Mathematik und keine Spielstunde. Ich dulde dein unreifes Verhalten nicht mehr, haben wir uns verstanden?"

Louise war entsetzt. Dieser Game Boy war derzeit das Wichtigste für sie. Zum einen erinnerte er sie immer an ihren Bruder, der in schwierigen Zeiten mit ihren Eltern immer an ihrer Seite gestanden hatte. Zum anderen hatte sie sich ein wenig in das Pokémonspiel verliebt. Die Dämme brachen und das junge Mädchen lief schluchzend aus dem Klassenzimmer und verschanzte sich auf der erstbesten Toilette, die es finden konnte.
Es dauerte nicht lange, bis es an der Tür klopfte. Louise versuchte, keine Geräusche zu machen. „Louise, ich weiß, dass du da drin bist. Ich habe dich schluchzen hören." Aurelie. Auf sie hatte Louise gerade überhaupt keine Lust, auch wenn sie eigentlich Freundinnen waren. Aber das andere Mädchen hatte nie verstanden, wie sie sich seit dem Tod ihres Bruders fühlte. Wäre nur dieser Unfall nicht gewesen.
„Louise, komm wieder raus. Seit du ständig mit dem blöden Ding spielst, bist du ganz anders. Du passt nicht mehr im Unterricht auf, achtest nicht mehr auf deine Freunde. Also stell dich nicht so an, nur weil Madame Mendeleiev dir den blöden Game Boy abgenommen hat. Das musste früher oder später passieren."

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