Kapitel 3

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Greene ist wirklich eine gute Investition gewesen. Hier halten sich viele Hipster mit lockeren Charakterzügen auf, jeder quatscht mit jedem über irrelevanten Mist und tut so, als wäre die Biographie von der Person gegenüber interessant. Genau das suchen die Menschen: "Anschluss. Beliebtheit. Ansehen." Wenn ich solche Gespräche führen möchte, dann muss ich andere ansprechen. Das mich ein Mann anspricht gibt es so gut wie nie. Leider. Nach dem ich mein Wasser ausgetrunken habe und noch 10 Minuten durch die Nachrichten auf dem IPhone gescrollt bin, entscheide ich, dass es, erst recht in einer solchen Bar, peinlich ist alleine zu sein und will gehen. Da sich immer mehr Menschen hier versammelt haben, muss ich mich durch eine dichte Menge schlängeln und habe dabei mehr Körperkontakt als mir lieb ist. Mein linker Arm streift immer wieder Gegenstände oder Personen und ich zucke dabei zusammen. Egal wie fest ich versuche mich davon abzuschirmen, es ist nicht möglich. Kleine Blitze schiessen von den Rezeptoren der vernarbten Haut, über Neuronen zu meinem Gehirn. Dort werden sie verdramatisiert und zu unbegründetem Unbehagen umgewandelt. Doch anders als bei vielen hat dieses Gefühl keinen traumatischen Ursprung, sondern stammt einfach von meiner Abscheu vor vielen Menschen und ihren Reaktionen auf Aussergwöhnliches. Als mich ein Typ nicht durchlassen will, da er gerade auf einem Handy von einem Kumpel ein Video ansieht, muss ich mich schwer zusammenreissen, ihm jetzt keine reinzuhauen. Ich balle meine Hand zur Faust, schliesse für einen Moment die Augen und atme tief durch. Meine Brust vibriert. Meine Beherrschung bewegt sich gefährlich nahe an den definitiven Abgrund.

Negative Emotionen sind ein Trigger für meinen inneren Wolf. Dann besänftigt ihn normalerweise Sex. Seit Jahren ist das meine Strategie, um meine Unruhe und somit auch eine ungewollte Verwandlung niederzukriegen, doch irgendwie nimmt genau dieser therapeutische Effekt stetig ab. Vor 15 Jahren begann ich damit zunehmend stärker gegen den Drang ankämpfen zu müssen, ich wurde hitzköpfig und raste wegen Banalitäten aus. Etwas frisst sich durch mich durch, kratzt von innen an meinen Schutzbarrieren, entfernt Stein für Stein und lässt mich angreifbar werden.

Als ich mich endlich dem Ausgang nähere beginnt mein Herz unnatürlich zu rasen und meine Atmung wird schneller. Meine Hand schliesst sich diesmal ungewollt zur Faust, jeder Finger kribbelt. Hyperventilation. Ich bewege mich etwas von den anderen Menschen weg und lehne meinen Kopf an die kalte Steinmauer. Ich kriege kaum mehr Luft, winsle wie ein Hund und versuche schneller zu atmen. Ich spüre, dass mein Hals noch wund ist und immer mehr zu Brennen beginnt. Um mich herum höre ich Stimmen, doch aus Angst, dass jetzt jemand zu mir kommt und mir helfen will, laufe ich ein paar Schritte. Doch ich komme nicht weit, mein innerer Wolf scheint zu protestieren und zwingt mich zwei Schritte zurück. Ich kann ihn nicht mehr lange halten, ich spüre es überdeutlich: Er bleckt seine Zähne. So schlimm war es noch nie. Ich flehe ihn an damit aufzuhören, doch er windet sich in mir. Ich lehne mich vor und drücke mir die verkrampfte Faust auf die Brust. Mein Herz erdrückt die umliegenden Organe, hält meine Lunge vom Atmen ab. Erneut höre ich Stimmen und versuche mich aufzurappeln. Silberne Flocken tanzen durch mein Sichtfeld, als sich die Stimmen nähern und ich mich zurück auf den Asphalt sinken lasse. Ich erblicke eine riesige Gruppe, bestimmt 50 Leute. Zu viele. Sie überqueren die Strasse und bewegen sich direkt auf mich zu. Mein Gesicht ist feucht von dem Schweiss und ich muss grauenhaft aussehen. Fieberhaft denke ich mir eine Ausrede aus, denn ich kann nicht ins Krankenhaus, die würden sofort merken, dass etwas an mir nicht stimmt. Ich reisse mich zusammen und versuche einmal tief einzuatmen. Überrascht stelle ich fest, dass es klappt. Mit jedem Schritt, den sie in meine Richtung machen, werde ich ruhiger. Meine Lunge kann sich wieder zur Hälfte weiten und ich öffne unter Schmerzen meine verkrampften Hände. Blut hat sich in den Handtellern und unter den Nägeln angesammelt, zwei mal vier sichelförmige Schnitte zieren meine Handinnenflächen. In 15 Minuten blutet das nicht mehr wegen der verbesserten Wundheilung der Werwölfe, was bestimmt Fragen aufwerfen würde.

"Können wir Ihnen helfen? Wir sind Ärzte aus dem städtischen Krankenhaus", sagt einer der drei Männer, welche alle vor mir in der Hocke eine Antwort erwarten. Ich zwinge mich auf die Knie und dann in den Stand. Meine verkrampften Muskeln protestieren und ich kämpfe den Zwang mich nach vorne zu krümmen nieder, als sich mein Bauch ruckartig zusammen zieht. Eine Frau kommt dazu, welche mich besorgt anblickt. Reden kann ich aktuell grad nicht, also schüttle ich nur den Kopf und sehe weg. Ich muss jämmerlich aussehen und bin mir sicher, dass ich mich Morgen vor mir selbst für diese Panikattacke genieren werde. Intuitiv spüre ich, dass sie mich nicht in Ruhe lassen werden also antworte ich keuchend: "Panikattacke. Kenne ich bereits. Habe schon ein Beruhigungsmedikament eingenommen.", doch dies scheint ihnen nicht zu genügen, denn sie gehen nicht fort. Also setze ich nach drei Minuten mit meiner erzwungenen, einigermassen ruhigen Stimme hinzu: "Mein Freund holt mich gleich ab, habe ihn angerufen. Ausserdem will ich eure Hilfe nicht, also verzieht euch. Ich bin kein Psycho." Dies schien zu funktionieren, denn ihre Gesichtszüge verhärteten sich und sich liefen zurück zu den anderen. Offenbar baten sie ihre Hilfe nur aus gesellschaftlichem Zwang an, nicht weil sie wirklich helfen wollten. Dass sie sich so einfach abwimmeln liessen war mir sehr recht.

Als sie fortliefen hörte ich noch Wortfetzen, welche nach "unhöflich" und "undankbar" klangen, jedoch verübeln konnte ich es ihnen nicht. Wie so einige andere Dinge ist mir ihre Meinung egal, denn ich hatte grössere Probleme: Was war das? Und vor allem, was hat meinen Wolf und meinen Körper so schlagartig beruhigt? Trotz meiner schnellen Heilung krümmte ich mich beim Gehen zwei Mal nach vorne, als ich zum Auto lief. Jedes mal stöhnte ich unter Schmerzen und hielt die Arme schützend um mich. Kurz vor meinem Auto kam der dritte Krampf und ich liess mich auf die Knie fallen, ich brauchte eine Pause. Ich versuchte mich zu einem Päckchen zusammen zu rollen um gegen den Schmerz anzukommen, doch der Krampf hielt 30 qualvolle Sekunden an. An der Spitze schrie ich für eine halbe Sekunde und biss mir dann auf den Finger um meinem Schmerz ein anderes Ventil zu bieten. Als alles abgeebbt war, stand ich wacklig auf und versuchte meinen übermässigen Speichel zu schlucken, doch es ging nicht. Alles hing hinten in meinem malträtierten Rachen. Der selbe Würgereiz wie vom Blowjob stellte sich ein und ich kämpfte mit meinem letzten Kräften dagegen an. Eine Mischung zwischen Husten und Würgen liess sich irgendwann nicht mehr verhindern, meine Bauchmuskulatur protestierte dagegen und ich lehne mich vornüber. Nach dem dritten Mal stimmte mein Magen ein, kontrahierte und ich spürte, dass ich mich übergeben muss. Meine Kraft war am Ende, also schloss ich die Augen und wartete. Mein Körper zitterte und mir war kalt. Gerade als ich mit dem Finger nachhelfen wollte wurde die Übelkeit besser. Mühsam schleppte ich mich zum Auto legte mich seitlich zusammengerollt auf den Rücksitz und überliess meiner Müdigkeit die Führung. Um 03:00 erwachte ich und fuhr nach Hause. Ich war gänzlich erledigt und mein Magen stiess auf. Heute tat ich etwas, was ich schon lange nicht mehr getan habe. Ich ging in der Nacht zu Aiden und legte mich zu ihm. Ich hatte Angst heute noch einmal so etwas erleben zu müssen, ich könnte es in meiner aktuellen Verfassung unmöglich nochmal alleine durchstehen und niemandem vertraue ich so sehr wie meinem besten Freund.

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⏰ Last updated: Feb 27, 2022 ⏰

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