6. Hilflos

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Es war vorbei. Endlich war alles vorbei. Das lange Warten, das Ungewissen, der innerliche Schmerz, die Angst, diese emotionale und höllische Achterbahnfahrt. Alles war vorbei.

Eigentlich müsste ich jetzt glücklich sein. Ginny lebt, wir haben einen gesunden Sohn und beiden ging es gut. Sie lebten, nach all dem, was sich in den letzten Stunden ereignet hatte. Sie hatten alle beide so verdammtes Glück gehabt.
Und ich stand hier, ausgelaugt, ängstlich und gedankenlos, obwohl ich überglücklich und dankbar sein müsste. Mein Körper fühlte sich ungewöhnlich leer an. Dieser Schmerz wollte mich nicht mehr loslassen. Er klebte an und in mir wie eine Klette.

„Harry?"

Ginny drehte mich langsam zu mir um. Sie sah nicht minder so mitgenommen aus wie ich, trotz allem was sie durchmachen musste. Langsam ergriff sie meine Hand und strich sanft mit ihrem Daumen über meinen linken Handrücken.

Ich versuchte mit viel Mühe ihr ein Lächeln zu schenken.

„Ist alles in Ordnung? Du siehst total blass aus"

„Es ist alles okay", log ich. „Mir geht es prima"

„Ich sehe das, wenn du lügst", sagte sie und durchbohrte mich mit einem ernsteren Blick. „Du siehst aus, als ob du gleich umkippen würdest. Außerdem kann ich mich nicht erinnern, dich jemals mit solchen dunklen Augenringen gesehen zu haben", meinte sie. „Geh nach Hause und ruh dich ein bisschen aus. Du kannst den Schlaf gebrauchen"

„Das sagt die Richtige", erwiderte ich und versuchte nochmals zu lächeln.

„Harry, ich meine das ernst. Du siehst überhaupt nicht gut aus"

„Mir geht es aber gut-"

„Ach, hör auf zu lügen. Wenn das so wäre, hättest du schon längst deine Arme ausgestreckt und mich gefragt, ob du mal deinen Sohn halten kannst", sagte sie kalt. „Du stehst nur daneben und starrst ins Leere. Klar, die Nacht war anstrengend, aber-"

„Anstrengend? Ginny, ich stand die ganze Zeit vorm Kreissaal und habe dich schreien gehört. Du klangst, als ob dich jemand foltern oder braten würde. Ich durfte nicht zu dir. Ich durfte nicht mal deine Hand halten, geschweige im Raum sein. Ich wusste nicht, ob du die Nacht überleben würdest und ob unser Baby gesund auf die Welt kommen würde. Ich saß stundenlang vor dem Zimmer und habe um euer Leben gebangt. Diese Nacht war die schlimmste Nacht meines Lebens und das werde ich auch nicht so schnell vergessen."

Stille. Sie sagte nichts. Nur Albus fing an zu weinen. In diesem Moment hätte ich mitheulen können.

Als er sich irgendwann beruhigt hatte, sprach ich weiter.

„Du musst mich nicht verstehen, denn du weißt nicht, wie es ist, wenn einem klar wird, dass die Person, die du über alles liebst jede Sekunde tot sein könnte. Schlimmer ist es, wenn man sieht, wie jemand Schmerzen hat und du stehst nutzlos da und kannst nichts dagegen tun. Das ist schrecklich und macht mich fertig. So ging es mir bei James' Geburt auch. Warum kann ein Mann keine Kinder bekommen?"

Ginny nickte.

Ich hielt es nicht mehr aus und stand auf. Ohne auf sie und Albus zu achten, verließ ich das Zimmer und apparierte nach Hause. Ich stürmte die Treppe hoch und ließ mich kopfüber ins Bett fallen. Dann konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich weinte, wie ich noch nie zuvor geweint hatte. Und ich schrie. All die Angst und Frust ließ ich raus. Alles kam auf einmal. Es hat so unglaublich gut.

Irgendwann wusste ich nicht mehr wie spät es war und wie lange ich schon so da lag. Ich presste meinen Kopf ins Kissen und schluchzte vor mir hin. So hatte ich mir die Geburt meines zweiten Kindes nicht vorgestellt. James' Geburt war so schön gewesen, dass ich vor Dieser keine Angst gehabt hatte. Doch diese Geburt war der absolute Horror gewesen.

Eigentlich war alles gut gelaufen, doch dann hatte Albus' Herz fast aufgehört zu schlagen, weshalb sie einen Noteingriff machen mussten. Da er schon mit dem Kopf auf der Welt gewesen war und blau geworden ist, wurde Ginny geschnitten und sie hatten ihn brutal geholt. Mich hatten sie zum Ende aus dem Zimmer geschickt, da sie gemeint hatten, ich würde hier bloß unnötig rumstehen.
Vielleicht war ich Ginny ja wirklich keine Hilfe gewesen...
Ich weinte und weinte, wollte alles ungeschehen machen. Ich wünschte, dass ich jetzt glücklich sein könnte, aber das war ich einfach nicht. Mir ging nicht mehr dieses Bild aus dem Kopf. Ginny, blass und müde, ihr schwacher und hilfloser Blick zu mir. Dann Albus, wie blau er gewesen war und all das Blut.

Ich hatte allgemein keine Probleme Blut zu sehen, aber Ginny hatte so stark geblutet, dass sie fast verblutet wäre.

Ich versuchte wieder auf andere Gedanken zu kommen, aber ich schaffte es nicht und bald spürte ich, wie meine Augen immer schwerer wurden und zufielen...

Mir kam es vor als wäre ich aus einem Winterschlaf aufgewacht. Die Sonne schien durch unser Schlafzimmer. Gähnend stand ich auf und zog mich an. Ich musste zu ihnen. Ich musste mich entschuldigen, denn gerade hatte ich realisiert, dass ich gestern ein richtiges Arschloch gewesen bin. Zu meiner Frau. Und zu meinem Kind.

Deshalb ging ich vorher noch zum Blumenladen und holte Ginny einen großen Strauß voller Rosen. Dann apparierte ich ins Mungos und klopfte an Ginny's Zimmertür. Als ich ein „Ja" zurückbekam, trat ich ein.

Eigentlich hätte ich mit allem gerechnet, nur nicht damit. Ginny stand am Fenster, im Arm hatte sie Albus. Sie drehte sich zu mir um und lächelte mich an. Nervös trat ich neben sie, legte den Blumenstrauß ab und zog sie mit ihm langsam in meine Arme.

„Es tut mir leid, dass ich gestern abgehauen bin. Ich bin so ein Idiot."

Ginny sagte nichts, aber sie lehnte ihre Stirn gegen meine Brust.

„Du brauchst dich nicht für deine Gefühle und Ängste zu entschuldigen"

„Aber ich war so ein Mistkerl gewesen. Ich habe euch allein gelassen"

„Das stimmt nicht. Ich habe gestern nochmal über alles nachgedacht und ehrlich gesagt wäre es mir genauso gegangen. Ich wäre auch wütend und ängstlich gewesen und weggelaufen, um allein zu sein. Zwar habe ich nicht alles mitbekommen, aber diese Heiler waren gestern einfach nur Abschaum. Ich bin so sauer, dass du rausgehen musstest. Ich...ich hätte dich gerade bei den letzten Wehen so sehr gebraucht. Du warst meine größte Hilfe. Weil ich Angst hatte. Riesige Angst. Bei dir fühle ich mich sicher. Und du wurdest mir weggenommen. Das war schrecklich"

Ich spürte, wie mein Shirt nass wurde.

„Eigentlich waren die Schmerzen nicht das Schlimmste", flüsterte sie. Das schlimmste Gefühl ist einfach dort zu liegen. In diesem Bett. Alle starren dich an und schauen dir zwischen die Beine. Alle reden gleichzeitig auf dich ein, du sollst noch mehr machen, du sollst es besser machen, dich mehr anstrengen. Sie sagen dir, dass du dich nicht genug anstrengen würdest und deshalb das Leben deines Kindes in Gefahr ist. Aber am Schlimmsten war, dass du am Ende nicht mehr da warst. Ich würde sogar nächstes Mal lieber Zuhause gebären, als bei diesen furchtbaren Heilern"

Ich drückte sie noch mehr an mich und strich ihr sanft über den Rücken.

„Lass dich nie unterkriegen, Gin. Du bist so eine tapfere und starke Frau und hast meinen allergrößten Respekt. Und was hier passiert ist, wird noch Konsequenzen haben"

Ginny sagte wieder nichts, doch dann löste sie sich von mir.

„Die Hauptsache ist, dass er gesund ist"

Vorsichtig berührte ich mit meinem Daumen seine Wange und strich darüber. In diesem Moment geschah etwas Unglaubliches:
Albus machte die Augen auf und lächelte mich an. Ich nahm ihn Ginny aus den Armen, setzte mich und drückte ihm einen festen Kuss auf die Stirn.

„Ich liebe dich, Albus und werde dich immer beschützen"

Ich sah Ginny an.

„Und dich auch."

Hinny One ShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt