༺ 5 ༻ "Dummer Junge"

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Ein halbes Jahrzehnt zuvor ...

›Was für ein dummer Junge!‹, peitschte es panisch in Eranas Kopf, aber die unausgesprochenen Worte klangen nicht wütend. Es war mehr ein Aufschrei aus Angst, als ein böser Tadel. Warum war er stehen geblieben? Weshalb hatte er versucht sie mit Worten umzustimmen? Versucht sie damit zu schützen?

Die Männer, die Rem gerade noch mit Stöcken geschlagen hatten, wichen zurück, als Erana sie anblitzte. Sie tat einen Schritt auf sie zu, dann noch einen. Doch bevor sie ein drittes Mal sich nach vorne bewegte, zog ihre menschliche Seite an den Zügeln und brachte sie ruckartig zum Stillstand.

›Lass mich weiter‹, knurrte ein Teil in ihr, wogegen sich der andere auflehnte. Sie wollte sich rächen.

›Ich hatte mir geschworen niemals aus Wut zu kämpfen!‹, hielt Erana gegen ihre Begierde an, ›Sie sind keine Monster.‹

›Ach? Bist du dir da wirklich sicher?‹, fragte die energische Stimm in ihrem Kopf und für einen kurzen Augenblick sackte sie in ihrer Gegenwehr ein. Rem war ein guter Junge. Er hatte keinem von denen auch nur ein Haar gekrümmt. Nicht einmal einen bösen Blick hatte er ihnen zugeworfen. Selbst als sie ihn geschlagen hatten. Also weshalb taten sie es?

Erana kam innerlich zum Stillstand. ›Wegen dir‹, hauchte es bitter in ihren Gedanken und widerwillig schluckte sie die zwei Worte hinunter.

Sie war es immer gewesen, weswegen schlimme Dinge geschahen. Jedenfalls hatte man es ihr damals immer eingebläut. Nicht seit ihrer Geburt an, nein, eher seit dem Zeitpunkt, als sie diesen Dämon in sich aufgenommen hatte.

Ihre Gedanken schweiften ab und plötzlich sah sich sich wieder in dem Dorf, in dem sie als kleines Kind gelebt hatte. Es war immer friedlich gewesen. Beinahe zu schön. Doch plötzlich, da hatte es mehrere Unglücke gegeben. Einige ungelöste Tode, verdorrtes Getreide, krankes Vieh. Jahr für Jahr wurde es schlimmer. Ihnen, den Kindern, hatte man nicht davon erzählt, doch Erana hatte damals gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte angefangen zu lauschen, nachts, wenn ihr Eltern dachten sie schliefen.

Sie hörte deren Angst, deren Sorge, dass es schlimmer kommen könnte. Kommen würde. Und es kam tatsächlich schlimmer. Ihre Schwestern verstarben und auch ihre Mutter. Kurz bevor diese jedoch von ihnen ging, sprach sie immer öfter von seltsamen Gestalten, die sie draußen sah. Von Schemen, die sich über die Felder bewegten wie dunkle Nebelschwaden.

Es waren einige Dinge mehr passiert und Erana konnte sich, nach den vielen Jahrzehnten nicht mehr genau an alles erinnern. Sie wusste aber noch, dass sie sich eines Tages dazu entschlossen hatte zu helfen in ihrer jugendlichen Naivität. Nur noch ihr Vater war ihr geblieben und sie hatte sich ungeheuerlich davor gefürchtet, dass auch er eines Tages versterben würde, würden diese Schatten weiter ihr Unheil verbreiten.

In ihrem Dorf war eine Schamanin gewesen und es war ihr Pergament, welches Erana gestohlen hatte. Auf diesem waren Schriften aufgetragen gewesen und seltsame Zeichen. Sie hatte sie auf Glück mitgenommen, gehofft, dass es die richtigen wären, um die Ungestalten zu vertreiben. Gelaubt, dass es das Richtige war, was sie tat.

Doch es kam anders und mitten in der Zeremonie, die Erana ohne Ahnung und ohne Wissen um die Folgen vollführte, entdeckte die alte Schamanin sie. Jedoch war es zu spät gewesen und die alte Frau konnte das Ritual nicht unterbrechen. Sie hatte den Dämon wohl oder übel in den Körper des Kindes einschließen müssen, wenn sie denn nicht Schlimmeres heraufbeschwören wollte. Genau den Dämon, der tatsächlich für all das Leid des Dorfes verantwortlich war. Eine wilde Kreatur, die ohne Bewusstsein durch die Welt flog.

Und seit dem Tag an ... änderte sich alles.


Erana tat einen weiteren Schritt zurück von den Männern, als sie unwillkürlich bei diesem Punkt ihrer Erinnerungen ankam.


Man hatte sie gemieden. Freunde, mit denen sie immer gespielt hatten, sprachen nicht mehr mit ihr. Irgendwann auch die anderen Dorfbewohner ... und schlussendlich fürchtete sich sogar ihr eigener Vater vor ihr.

Die Plagen hörten größtenteils auf, doch nicht gänzlich und für diesen Rest des Unglücks machte man selbstverständlich sie verantwortlich. Man dachte, dass sie sie herbeiführte. Und irgendwann dachte man dann, dass es nicht mehr Erana war, die vor ihnen stand, sondern tatsächlich der Dämon. Dass diese körperlose Gestalt in ihr das Menschliche unterdrückte und sich mit der fleischlichen Hülle unter ihnen allen versteckte. Und all sie hatten Angst, dass dieser Dämon bald wieder ausbrechen würde und dies das Ende für sie alle wäre.

Man begann Erana zu stoßen, wenn sie zu nah kam, zu bespucken, wenn sie denn jemanden ansah. Sogar ihr Vater verweigerte ihr immer öfter das Essen, sprach nicht mit ihr und vertrieb sie irgendwann aus dem haus.

Es hatte damals nur einen gegeben, der ihr geholfen hatte, der ihr Essen gebracht und sie in der Scheune hin und wieder besucht hatte. Der, der am längsten zu ihr gehalten hatte. Ihr weder weh getan, noch von sich gestoßen hatte. Jedenfalls eine längere Zeit lang.

›So- ...‹

Noch bevor Erana den Namen des Jungen im Kopf gänzlich aussprechen konnte, brach sie ab.

Die Vergangenheit, lag sie denn nun auch so weit zurück, schmerzte immer noch.

Dieser eine Mensch, dieser eine Junge, bei dem es feststand, dass sie ihm versprochen werden würde. Der, der tatsächlich etwas für sie empfunden hatte, schon damals als sie klein waren. Sie hatten Tag ein, Tag aus miteinander Zeit verbracht und kannten sich gegenseitig besser, als es die eigene Familie jemals getan hätte.

Und genau dieser Junge war es damals gewesen, der sie irgendwann ebenfalls im Stich gelassen hatte. Der irgendwann angefangen hatte dem Gerede zu vertrauen. Mehr als ihr. Der, der letztendlich ebenfalls zugesehen hatte, wie sie geschlagen und eingesperrt wurde. Sie war eine ganze Zeit lang nur deshalb nicht geflohen, weil sie immer noch gehofft hatte, dass er bald wiederkommen würde. Doch das tat er nicht.

Und so ging Erana eines Tages. Sie kehrte ihnen allen den Rücken, nutzte die Kraft des Dämons - zu dem Zeitpunkt noch ganz unbewusst - und verschwand aus dem Dorf, in dem sie eigentlich behütet aufwachsen sollte.



Erana merkte nicht, wie die Männer, die sie die ganze Zeit während ihrer Starre angeschaut hatte, sich langsam zurückzogen. Sie merkte nicht, dass sie zurückstacksten, immer weiter weg von ihr, sich schließlich umdrehten und flohen. Erst einige Minuten später blinzelte sie und hörte, wie Rem neben ihr versuchte sich aufzusetzen. 

Sogleich stieß sie sich wieder in die Gegenwart zurück und vertrieb die unschönen Gedanken. Sie kniete sich hin. »Ruhig, mein Lieber«, murmelte sie und merkte, dass ihre Stimme trocken geworden war, ja schon rissig. Sie schluckte und erinnerte sich daran, dass der Junge unter ihrer Obhut stand und anders als die Menschen aus ihrer Vergangenheit, sie ihm niemals weh tun würde. Egal, was kommen würde.

»Komm, du wirst dich die nächsten Tage schonen müssen«, sagte sie ihm und half ihm beim Aufstehen.

»Aber der Mann, den Ihr verfolgt ...«

»Er wird warten können. Genau wie alles andere.«

Erana - Die Heldentöterin - | ABGESCHLOSSENWo Geschichten leben. Entdecke jetzt