Kapitel 1

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Ich sehe meinen Körper da liegen. In einem geöffneten Sarg. Doch das bin jetzt nicht mehr ich. Nicht wirklich. In der Leichenhalle steht meine Mutter. Sie weint. Das tut sie schon die ganze Zeit, aber ich kann es nicht ändern. Ich kann gar nichts ändern, nichtmal, wenn ich es wollte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich etwas ändern will. Jetzt steht mein Vater bei meiner Mutter. Er nimmt sie in den Arm, tröstet sie. Ich weiß, dass es ihm genauso schlecht geht, er zeigt es nur nicht. Ich treibe davon. Versinke in etwas, das man mit einem Koma vergleichen könnte. Ich weiß, dass ich immernoch da bin, bekomme aber nichts mehr von dem Geschehen um mich herum mit. Ich merke nicht, wie die Zeit vergeht, ob sie überhaupt vergeht. Für mich gibt es keine Zeit mehr.
Dann sehe ich plötzlich wieder klar. Gestochen scharf erkenne ich den Pfarrer. Die Ministranten, die ihre Weihrauchkessel schwenken. Meine Familie und Klassenkameraden. Sie sitzen auf den blauen Stühlen und viele von ihnen weinen. Der Sarg ist jetzt geschlossen, Kerzen brennen und Fotos von mir stehen auf dem Boden. Ich spüre nichts. Nicht die Regung eines Gefühls. Eigentlich sollte ich Schmerz empfinden. Reue. Weil alle, die ich zurückgelassen habe, leiden. Wegen mir. Aber ich habe keine Gefühle. Nicht mehr. Ich bin einfach hier und sehe zu, obwohl ich keine Augen habe. Und ich höre einige Mitschüler eine Rede halten, obwohl ich keine Ohren habe. Dann heben die Sargträger meinen Sarg hoch und er wird hinaus getragen. Ich schwebe mit. Es ist nicht wirklich schweben, aber man könnte es damit vergleichen. Das Loch ist bereits ausgehoben. Der Sarg wird abgesenkt und nacheinander wirft jeder, der gekommen ist, eine Schaufel Erde und Blütenblätter in die Grube.
Meine Eltern und meine kleine Schwester stehen noch an meinem Grab, nachdem die anderen Trauergäste gegangen sind. Meine Mutter sieht schmal aus, abgemagert. Ihr Gesichtsausdruck ist verbissen und sie hält ein zusammengeknülltes Taschentuch in der Hand. Mein Vater hält ihre Hand. Meine Schwester klammert sich an ihm fest, wie eine Ertrinkende an einem Stück Holz. Ein ziemlich trostloser Anblick. Mein Vater sagt leise etwas zu meiner Mutter. Sie dreht sich um und sieht ihn an. Ihre Wangen sind schwarz vor zerlaufener Wimperntusche und ihre Augen müde. Eigentlich sollte ich jetzt Schmerz empfinden, aber da ist immer noch nichts. Meine Familie geht vom Friedhof. Sie steigen ins Auto und der Motor wird angelassen. Ich weiß, wo sie hinwollen. Ins Restaurant, zum Leichenschmaus. Nur, dass sie wohl kaum einen Bissen runter bekommen werden. Ich werde auch dabei sein, das alles ist ja schließlich nur wegen mir. Mit dem Unterschied, dass keiner meine Anwesenheit bemerken wird, denn im Grunde genommen kann ich gar nicht dort sein.

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