Kapitel 3

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"Wir gehen heute Abend essen. Zieh dich schön an." Sie legt mir die Kleider aufs Bett und geht aus dem Zimmer. Ich habe keine Lust auf die ewigen Essen in Restaurants, bei denen meine Eltern den restlichen Leuten zeigen wollen, wie perfekt unsere Familie doch ist. Bei diesem Gedanken schnaube ich verächtlich. Perfekt. Ich zieh mir das Hemd an und stopfe es in die Hose. Es klopft an der Tür. "Kann ich rein kommen?" "Klar." Die Tür geht langsam auf und meine kleine Schwester streckt ihren Kopf ins Zimmer, Tränen stehen in ihren großen, himmelblauen Augen. "Komm her. Was ist denn los?" Sie kommt rein und schließt leise die Türe hinter sich. "Wir dürfen nicht gehen", flüstert sie und sieht mich flehend an. Mit ihrer kleinen Hand umklammert sie meine Finger. "Was wird passieren?", frage ich ernst. Ihre Augen werden noch größer und die Tränen laufen ihr die Wangen hinunter. "Nicht.." "Shhh." Ich nehme sie in den Arm und streichle ihr über den Rücken. Dann halte ich sie ein paar Zentimeter von mir weg. Unsere Mutter hat sie schon in das blaue Seidenkleidchen gesteckt, in dem sie wie eine Erwachsene aussieht. Dabei ist sie doch noch ein Kind. "Und jetzt erzähl mir, was du gesehen hast." Immer mehr Tränen kullern aus ihren Augen. Ich wische sie weg und umarme sie wieder fester. Sie kann nicht darüber reden, so schlimm ist es. "Bitte, geh nicht", fleht sie mich an. "Aber ich kann nicht da bleiben.." "Bitte!" Ihre Stimme schwankt, sie ist verzweifelt. "Alles wird gut", flüstere ich in ihre seidigen, blonden Haare, "Alles wird gut."
"Musstest du unbedingt Wein trinken? Mir ist nicht ganz wohl dabei, dass du fährst!" "Ach komm, das waren doch nur zwei Gläser.." "Keins wäre mir trotzdem lieber!" Ich versuche, ihre Stimmen auszublenden. Immer streiten sie sich. Ich schaue rüber zu meiner kleinen Schwester, sie hält sich die Ohren zu und hat Tränen in den Augen. Den ganzen Abend über hat sie nervös gezappelt, wollte uns davon abhalten, zu fahren. Sie hat immer noch Angst. Was auch immer passieren wird, es wird schlimm sein. Mir wird kalt bei dem Gedanken. Wie kommt es, dass ich noch nicht in Panik verfallen bin? Sollte ich nicht Angst haben, um mich, um sie? Vielleicht ist mein Leben mir auch einfach nichts mehr wert, aber ihres schon. Ihr darf einfach nichts passieren. Dad fährt um eine Ecke und da sehe ich es. Helle Lichter, die genau auf uns zukommen. "Jetzt werden wir alle sterben", schießt es mir durch den Kopf. Dann wird es mir klar. Wir alle. "Neiiiiiin!", kreische ich laut und werfe ich mich auf meine Schwester. Ich muss sie beschützen, koste es, was es wolle. Dad versucht auszuweichen, der Wagen schlingert und kracht durch die Leitplanken. Das Auto rollt den Hang hinunter, als ob es ein einfacher Ball wäre. Es stürzt direkt auf einen riesigen Baum zu. Ich liege immer noch auf meiner Schwester, versuche, sie abzuschirmen als sich die Äste durch die Scheiben und schließlich auch durch mich bohren. Ich schreie vor Schmerz auf. Dann verliere ich das Bewusstsein.

Als ich das nächste Mal meine Augen aufschlage, bemerke ich helles Licht. "Ich muss wohl tot sein", schießt es mir durch den Kopf. Das Licht ist so grell, das ich meine Augen sofort wieder schließe. Da bemerke ich den Schmerz, den brennenden, pochenden, bohrenden Schmerz in meiner Brust, meiner Schulter und meinem Schenkel. "Tut es so sehr weh, tot zu sein?" Da bemerke ich Schritte. Und Stimmen. Ich muss mich sehr konzentrieren, um etwas zu verstehen. Trotzdem dringen nur wenige Worte zu mir vor. "... Schrecklich ... Junge ... Glück gehabt ... Eltern ... Tot ... Mädchen ... Schwer verletzt ... Operation ... Tausende Euro ..." "Nein!" Also hat mein Versuch, sie zu schützen, nicht viel gebracht. Und diese Summe... Wer soll die Operation denn nur bezahlen? Ich wüsste nicht, dass meine Eltern so viel Geld besitzen. Besaßen. Jetzt sind sie ja tot. "Sie wird sterben!", denke ich voller Verzweiflung, "Und ich soll leben? In dem Gewissen, dass ich sie nicht retten konnte, sie hab sterben lassen? Nein." Die Schritte entfernen sich wieder und ich schlage meine Augen erneut auf. Ich werde nicht leben. Ich schaue mich um. Neben meinem Bett stehen viele blinkende, piepsende Apparate. Einer zeigt meinen Herzschlag an, ein anderer ist durch ein Kabel mit einer Atemmaske verbunden, die ich aufhabe. Entschlossen reise ich das Kabel heraus und höre, wie ein Alarm losgeht. Zufrieden lächle ich, dann werde ich ohnmächtig. Ich weiß, dass es dieses Mal für immer sein wird.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 05, 2015 ⏰

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