Ein helles Licht fiel vom Himmel direkt über einem Stall in den Lowlands von Schottland. Doch niemand sah, wie dieser Komet seine lange Reise durch die Weiten des Universums beendete, indem er in der Umlaufbahn der Erde unwiderruflich verglühte, denn alle schliefen schon. Alle bis auf einen, Onkel Jasper, doch dieser saß in seinem Arbeitszimmer im Haupthaus seines Pferdehofes Merrie' und starrte unablässig auf den Bildschirm seines Computers, der neben der kleinen Tischlampe die einzige Lichtquelle war, die den Raum erhellte.
Fast alles in dem Raum, in welchem Onkel Jasper saß, war aus Holz. Boden, Wandvertäfelung, Decke, Schreibtisch, Stuhl, Regale, sogar die Bücher waren streng genommen Holz, da sie aus Papier bestanden, was bekanntlich aus gefällten Bäumen gemacht wird. Onkel Jasper selbst fühlte sich, als wäre sein gesamter Körper aus feuchtem und aufgequollenem Holz. Das nass-kalte Wetter Schottlands bekam ihm einfach nicht, das hatte sich seit seinem gezwungenen Umzug hierher vor nunmehr fast 16 Jahren nie geändert. Er hatte sich damit arrangiert, was hätte er auch sonst tun sollen, als es hinzunehmen? Ändern konnte er sein Schicksal schließlich nicht mehr. Das Leben hier draußen hatte immerhin auch Vorteile. Hier fristete er ein friedliches Dasein und konnte Kindern, besonders Mädchen das reiten beibringen. Diese Arbeit befriedigte ihn ungemein, besonders, wenn er den Kindern noch eine andere Art von reiten zeigte. Das einzige, was er noch befreiender fand, waren die zahllosen Glücksmomente, wenn er ungestört Zeit mit seinen Pferden verbringen konnte.
Seine Knochen und sein Leib fühlten sich dennoch klamm an, weshalb er sich fester in seine himmelblaue Ärmeldecke kuschelte, die über und über mit Spermaflecken übersäht war. Jasper nahm keinerlei Anflüge von Müdigkeit wahr, während er auf dem Rechner von dem antiken Helden Bellerophontes las, der als erster auf dem Pegasos geritten war. In seiner Fantasie malte er sich die Szene detailliert aus. Die Rosette des göttlichen Rosses, der nackte, muskulöse Körper des Heros, Jaspers Hand wanderte langsam zu seinem Schoß und es würde nicht mehr lange dauern bis sich ein neuer Fleck auf seiner flauschigen Decke zeigen würde. Doch plötzlich weckte das Aufpoppen einer Nachricht ihn aus seinen lustvollen Vorstellungen. Es war eine E-Mail von seiner Schwester Annika.
Er erinnerte sich gern an sie. Schon immer waren sie sich nahe gewesen, und je älter sie wurden, desto näher kamen sie sich so nahe, dass, wenn auch nur eine Seele es herausgefunden hätte, sie von jedermann verdammt worden wären. Doch bei aller Nähe hatte zwar sein Körper sie geliebt, doch sein Herz war nie von Cupidos goldenem Pfeil getroffen worden. Nein, wahrlich geliebt von ganzem Herzen, hatte er nur eine und das war ... . Nein er wollte ihren Namen noch nicht einmal in Gedanken aussprechen! Damit er diese Gedanken aus seinem Kopf verbannen konnte, wandte er sich schnell der E-Mail zu, die immer noch die Mattscheibe vor ihm dominierte. Als er begann zu lesen, staunte er nicht schlecht. Annikas Tochter, Amanda, solle den Sommer über bei ihm auf dem Reiterhof zubringen, um ein Praktikum zu machen.
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Die Onkel Jasper Chroniken
Mystery / ThrillerOnkel Jasper musste vor vielen Jahren überstürzt in einen entlegenen Teil Schottlands ziehen. Dort fristet er nun sein Leben und leitet einen Reiterhof, auf dem Kinder zur besonderen Freude Jaspers ihre Ferien verbringen. Als er jedoch eines Nachts...