Kapitel 15

233 6 0
                                    

Den restlichen Tag versuche ich verzweifelt, die Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Sie machen mir ein unheimlich schlechtes Gewissen und lenken mich so ab, dass ich mich kaum auf die Arbeit konzentrieren kann. Chris fällt das schneller auf, als mir lieb ist und er spricht mich öfters darauf an, als ich Nerven dafür habe, alles abzustreiten. Immer wieder spielt sich diese eine Szene vor meinem inneren Auge ab. Das Bild schiebt sich immer wieder heimlich in mein Gehirn. Ich sehe ständig die weißen Krankenhauswände, die blutigen Tücher neben mir und die Uhr, die sich einfach nicht zu bewegen scheint. Ich weiß, wie lange ich dort lag, und doch fällt es mir schwer, es zu glauben. Noch immer kommt es mir vor, als hätte ich ein halbes Jahr im Krankenhaus verbracht und die Tür angestarrt in der Hoffnung er würde sie betreten. Aber nichts ist passiert. Wie hätte ich auch etwas anderes erwarten können? Er wusste nicht, wo ich war. Und er wusste nicht, warum ich dort war. Und so ist es auch besser. Niemand wusste es. Niemand außer meinem Bruder. Selbst Charlie wollte ich es nicht erzählen. Doch seine Worte von heute Morgen lassen mich jetzt zweifeln. Er will ehrlich zu mir sein. Und zwar in Allem. Wenn ich ihn nicht anlügen will, sollte er es erfahren, auch wenn es ein Schock für ihn sein wird. Ich muss fair zu ihm sein. Und doch weiß ich nicht, wie ich es ihm sagen soll, ohne mit der Tür ins Haus zu fallen. Es lässt sich vielleicht doch nicht vermeiden.
„Scarlett!" Eine schreiende Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Erst jetzt registriere ich, dass ich bei der Arbeit bin. Die Kaffeemaschine vor mir brummt und heißer Kaffee fließt plätschernd durch das Sieb in den Abfluss. Chris steht winkend neben mir.
„Scar! Was ist los?", fragt er und sieht mich eindringlich an.
„Ähm..." Schnell greife ich nach einer Tasse und stelle sie auf das Sieb, sodass der Kaffee jetzt von ihr aufgefangen wird und nicht mehr weggespült wird. „Nichts... alles ok.", sage ich schnell. Ich greife nach einem Lappen und wische die danebengegangenen Tropfen vom Sieb auf.
„Hör auf mich anzulügen!", sagt er. Ich ignoriere ihn, weil ich keine Lust habe, mit ihm darüber zu diskutieren. Zügig laufe ich durch den Laden und räume die verlassenen Tische ab, auf denen noch Tassen, Teller oder Gläser stehen. Chris Blick liegt währenddessen aufmerksam auf mir und verfolgt jede meiner Bewegungen genau. Schließlich führt mich mein Weg zum Geschirrwagen. Ich will gerade das oberste Tablett herausziehen, als ich von hinten an den Schultern gepackt werde. Erschrocken fahre ich herum und finde mich wenig später in Chris' vorwurfsvollen, grünen Augen gefangen.
„Scar.", sagt er ruhig, aber mit fester Stimme.
„Ich will nicht drüber reden.", sage ich sofort. Er seufzt.
„Hat es was mit Charlie zu tun?", fragt er. Ich antworte weder, noch reagiere ich auf seine Frage. „Habt ihr euch gestritten?", fragt er weiter. Ich schüttele den Kopf. „Was ist es dann?" Wieder seufze ich. Am liebsten würde ich jetzt sofort auf der Stelle aus dem Laden stürmen und Charlie alles erzählen. Ich muss es einfach loswerden. Aber Chris wird es nicht erfahren. Das Geheimnis ist einfach zu groß, als dass ich es ihm anvertrauen würde. Dafür kenne ich ihn einfach noch zu wenig.
„Ich kann es dir nicht sagen.", sage ich und sehe zu Boden.
„Du musst nicht weinen, Scarlett.", sagt er. Verwirrt sehe ich wieder auf. In diesem Moment spüre ich eine Träne meine Wange hinablaufen. Schnell wische ich sie weg und blinzele ein paar Mal. Statt etwas zu sagen, lasse ich mich in Chris' Arme fallen.

Die folgenreiche EntscheidungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt