Kapitel 31

186 5 0
                                    

---Ihre Sicht---
Ich schleiche so leise wie möglich die Treppe hinunter um die anderen nicht zu wecken. Es ist erst sieben Uhr morgens, aber ich konnte einfach nicht schlafen. Die Stufen quietschen unter meinem Gewicht, weshalb ich versuche, noch vorsichtiger zu laufen. Ich will mir schon gratulieren, weil ich unten angekommen bin und niemanden aufgeweckt habe, als ich durch ein Klirren zusammenfahre. Ich schaue mich um, da ich befürchte, etwas umgeworfen zu haben, aber das Geräusch kam aus der Küche. Ich sehe also nach. Am Herd steht - die Arme vor der Brust verschränkt und mit leicht zerstruppelten Haaren - Bill. Er trägt nur eine Jogginghose, sein kompletter Oberkörper ist frei. In der Hand hält er eine Tasse und verzieht das Gesicht, als er mich sieht.
„Auch schon wach?", fragt er genervt.
„Ja! Bei dem Krach hier kann man ja auch schlecht weiterschlafen.", gebe ich bissig zurück. Er grinst spöttisch.
„Hast dich überhaupt nicht verändert. Du bist noch genauso zickig, wie damals."
„Und du noch genauso eingebildet." Ich schiebe mich an ihm vorbei, wobei mein Oberarm seine Brust streift. Ein Kribbeln durchläuft mich, aber ich ignoriere es und fülle mir ein Glas mit Wasser.
„Ich dachte, du willst mir aus dem Weg gehen.", sage ich.
„Schon, aber ich bin heute irgendwie in Stimmung für Smalltalk.", sagt er und grinst breit. Skeptisch ziehe ich eine Augenbraue hoch. „Was denn?", fragt er vorwurfsvoll. Ich kann nur verwirrt den Kopf schütteln.
„Was zum Teufel ist mit dir los?", frage ich verwirrt.
„Nichts, ich versuche nur gerade zu verstehen, wie es Charlie so lange mit dir aushält. Wie lange seid ihr schon zusammen? Zwei Jahre?"
„Zweieinhalb Jahre."
„Aha.", meint er abschätzig und trinkt einen Schluck aus seiner Tasse.
„Tu gefälligst nicht so arrogant, ok?", sage ich genervt.
„Wow, Miss Perfect kann ja auch mal unhöflich sein."
„Ja, stell dir vor, das kann ich. Und ich bin liebend gerne unfreundlich zu Menschen, die mich blöd anmachen. Also verurteile mich nicht!"
„Zu spät. Und arrogant bin ich ganz sicher nicht."
„Ach nein? Also läufst du generell ohne Oberteil durchs ganze Haus?", frage ich.
„Nein, nur wenn das andere auch machen.", grinst er und mustert mich. Ich schaue an mir herunter und stelle fest, dass mein Top vorne ein gutes Stück nach unten gerutscht ist und man so einen guten Blick auf meinen BH hat. Meine Hose lässt außerdem etwa 7/8 meiner Beine frei.
„Früher haben dir die Sachen besser gestanden. Hast du zugenommen?", fragt er grinsend.
Mein Geduldsfaden reißt endgültig. Ich knalle mein Glas auf den Tisch, gehe auf ihn zu und bleibe dicht vor ihm stehen.
„Was bildest du dir eigentlich ein?", zische ich. „Du meinst, dass das damals alles meine Schuld war und du jetzt dadurch das Recht hast, mich runterzumachen? Da hast du dich geschnitten! So lass ich mich nicht von dir behandeln! Ich habe schließlich zwei Jahre mit dir zusammengelebt und dachte, ich kenne dich! Aber du hast mich von vorne bis hinten angelogen. Noch nicht einmal deinen richtigen Namen wusste ich. Und da erwartest du, dass ich nicht sauer bin! Ich habe dir zwei beschissene Jahre meines Lebens hinterhergeheult und es bereut, dich verlassen zu haben. Aber soll ich dir was sagen! Seit ich Charlie habe, bist du weg aus meinem Kopf. Weil er ein guter Mensch ist. Er hat mich nicht angelogen! Er hat mir nichts vorgespielt! Ich kenne ihn besser, als es bei dir je der Fall war. Und das, obwohl du mir immer gesagt hast, ich wäre der einzige Mensch, der dich wirklich kennt. Aber ich kenne dich nicht. Ich kenne nur die Figur, die du zwei verdammte Jahre gespielt hast. Also bilde dir nicht ein, dass es diese zwei Jahre mit dir wert waren! Du bist ein verlogenes, arrogantes Arschloch! Ja, vor allem arrogant!", werfe ich ihm an den Kopf und stürme aus dem Zimmer zur Tür hinaus und in den Garten, wo ich mich in das nasse Gras fallen lasse. Der Zustand meiner kurzen Hose ist mir jetzt völlig egal. Ich starre geradeaus in den Wald. Was bildet sich dieses Arschloch eigentlich ein! Er hat mindestens genauso viel Schuld an unserer Trennung damals. Ich werde abreisen. Nur muss ich warten, bis Charlie wach ist, dass er mit mir apparieren kann. Hier halte ich es keine Minute länger aus. Meine Finger reißen wie von fern gesteuert das nasse Gras aus der Erde. Es hilft mir, meine Aggressionen auszulassen.
„Hey!", sagt plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich weiß sofort wem sie gehört.
„Was ist?", frage ich. Ich höre mich wütender an, als ich bin, aber ich sehe nicht ein, es ihm einfach zu machen.
Er setzt sich schweigend neben mich. Ich stelle fest, dass er jetzt eine Jeans und ein weißes Hemd trägt. Wenigstens dazu hat sich der werte Herr herabgelassen.
„Ich will mich entschuldigen.", sagt er schließlich. „Es ist nicht fair, auf dir rumzuhacken. Ich muss meine Aggressionen anders auslassen. Aber nicht an dir."
„Wieso Aggressionen?"
„Denkst du, ich habe die Trennung so einfach weggesteckt? Ich habe Charlie die Ohren vollgeheult, bis ich Fleur kennengelernt hab. Ich hätte alles getan, dass du wiederkommst. Und jetzt tauchst du nach zwei Jahren wieder auf! Ich bin einfach ausgerastet deswegen. Das war nicht fair, dich deswegen runterzumachen." Ich schweige, da ich nicht weiß, was ich sagen soll. Ich habe mit vielem gerechnet, aber ganz sicher nicht mit einer Entschuldigung. „Weißt du, was ich als erstes gemacht habe, nachdem mir klar war, dass du nicht wiederkommst?", fragt er und sieht mich an. „Ich bin nach Paris appariert und habe mitten in der Nacht das Brückengeländer der Pont de Arts, an dem unser Schloss hing, abgerissen. Stand am nächsten Tag in der Zeitung. Die Polizei hat geglaubt, dass das Gewicht zu schwer war und das Geländer deshalb eingestürzt ist.", sagt er und ich muss grinsen. Zu meinem Missfallen bin ich schon jetzt nicht mehr sauer auf ihn. Das ist eben eine seiner guten Eigenschaften. Oder schlechten... Wie man es nimmt. Er hat es damals schon immer geschafft, mich zum Lachen zu bringen, wenn ich eigentlich sauer auf ihn war. Aber durch seine Entschuldigung könnten wir es vielleicht sogar schaffen, unseren ewigen Streit endlich zu beenden.
„Mir tut es auch leid.", sage ich. „Ich habe dich gleich runtergemacht, als ich dich letzte Woche gesehen habe. Das war nicht fair."
„Stimmt."
„Will?", fange ich an. „Hast du das ernst gemeint, dass du mich hasst, weil ich Charlie glücklich mache?"
„Ganz ehrlich? Ja. Aber das kann sich ja noch ändern. Vielleicht können wir ja doch Freunde werden."
„Das wäre schön.", sage ich.
„Du sagtest vorhin, dass du denkst, mich nicht zu kennen.", sagt er.
„Ja, ist ja auch so.", sage ich und schaue wieder den Wald an.
„Nein! In diesem Punkt habe ich nie gelogen. Du kennst mich wirklich am besten. Sogar besser als Charlie. Und mit ihm habe ich mein ganzes Leben verbracht. Alleine, dass du immer gemerkt hast, wie es mir gerade ging. Du wusstest es, bevor ich überhaupt irgendetwas sagen konnte."
„Stimmt.", sage ich leise und sehe ihn lächelnd an. Ein seltsames flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus. Es fühlt sich irgendwie vertraut an, aber auch wieder fremd. Ich weiß nur, dass es mich unendlich glücklich macht. Er dreht jetzt auch den Kopf zu mir und sieht mir in die Augen. Was in den nächsten Sekunden passiert, nehme ich gar nicht richtig war. Doch plötzlich liegen seine Lippen auf meinen. Ich erwidere wie in Trance den Kuss und spüre wenig später seine Hände auf meiner Hüfte, die mich näher an ihn ziehen. Meine Arme lege ich um seinen Hals und lasse mich auf seinen Schoß ziehen.
Was tue ich hier blos? Ich weiß, dass es falsch ist, aber mir fehlt die Willensstärke, ihm zu widerstehen. Der Kuss wird stürmischer und ich gehe darauf ein. Er küsst so wie damals. Leidenschaftlich und trotzdem mit unendlicher Ruhe und Sanftheit. Genauso, wie unser erster Kuss vor sieben Jahren in Paris. Seine Hände streichen mir jetzt durch die Haare und lassen dadurch nur noch mehr Erinnerungen von damals hochkommen. Ich muss das hier beenden. Es ist falsch. Ich liebe Charlie, nicht Bill. Ich liebe Charlie, ich liebe Charlie! rede ich mir ein, aber ich schaffe es nicht, mich loszureißen. Er hat mich schon wieder völlig unter Kontrolle.

Die folgenreiche EntscheidungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt