Morpheus

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Wie jeden Tag wandelte ich durch die wundersame Welt der Träumenden. Von finsteren Gestalten gejagte Kinder, versuchten gerade panisch vor ihren Verfolgern zu fliehen. Ich beschloss es ihnen nicht ganz so leicht zu machen und schickte weitere drei der bestialischen Viecher hinter ihnen her. Zugegebenermaßen war das ziemlich gemein, aber sie würden sich wahrscheinlich am nächsten Morgen sowieso nicht mehr daran erinnern. Ein paar Träume weiter fand ich mich in einem Schmuckgeschäft wieder, in dem eine dickliche Verkäuferin einem Mann bei der Wahl eines Verlobungsrings behilflich war. Es bereitete mir immer riesigen Spaß den Verlauf von Träumen zu beobachten und herauszufinden, wer von den agierenden Personen der Träumende und wer nur eine weitere Traumfigur, also ein nebensächlicher Bestandteil des Traumes war. In diesem Fall war eindeutig der Anzug tragende Mann der Träumer, der sich bei der Auswahl eines geeigneten Rings wirklich schwer tat. ,,Wollen Sie noch andere sehen? Ich hätte da einen aus Gold, oder vielleicht lieber einen Diamantring?", fragte die Verkäuferin mit einem freundlichen Lächeln. ,,Nein, i-ich denke ich k-kaufe doch nichts", stotterte der junge Mann, mit der Situation sichtlich überfordert. Wie würde er wohl reagieren, wenn sich die nette Dame plötzlich in ein schreckliches Monster verwandeln würde? Mit einem lässigen Fingerschnipsen meinerseits, wurde aus der hilfsbereiten Ladenbesitzerin eine Krötenähnliche Gestalt mit schwarzen Augen und Tigerkrallen. Erschrocken rannte der Mann zum Ausgang und rüttelte wild an der Tür, die sich aber, dank mir, nicht öffnen ließ. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, als das Krötenmonster mit bedrohlichen Schritten auf ihn zukam, den Mund öffnete und ihn mit seiner langen, glitschigen Reptilienzunge umschlang. Mit weit aufgerissenen Augen gab er einen letzten Schrei von sich, ehe die ganze Szenerie verschwand und nichts als Dunkelheit zurückblieb. Schade, dass die meisten gerade dann aufwachten, wenn es spannend wurde! Ich beschloss in den nächsten Traum zu springen und mich dort mal ein bisschen umzusehen. 

Alles war weiß. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass ich mich nun in einem mit Schnee bedecktem Wald befand. Das komische an diesem Traum war allerdings, dass weit und breit kein Träumer zu sehen war. Bei genauerer Betrachtung der Umgebung, erkannte ich Fußspuren im Schnee, die bis tief in den Wald hinein reichten. In keinem anderen Traum hatte ich jemals den Träumer suchen müssen, ich wurde bislang immer sofort mitten ins Geschehen teleportiert. Je weiter ich den Spuren folgte, desto neugieriger wurde ich, wem dieser Traum wohl gehörte. Hinter ein paar Tannen endete die Spur, aber noch immer war kein Träumer in Sicht. Wollte Hypnos mich etwa auf die Probe stellen? Verärgert trat ich mit meinem Fuß gegen den Stamm einer Tanne, woraufhin eine gewaltige Ladung Schnee herunterfiel. Schnell sprang ich zur Seite, damit mich die Schneemasse nicht unter sich begrub. Langsam hatte ich keine Lust mehr auf dieses Versteckspiel! Genervt stapfte ich durch den Schnee, bis ein Tropfen Blut meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich inspizierte ihn genau und entdeckte weitere rote Blutstropfen, die zu dem weißen Schnee einen beängstigend schönen Kontrast bildeten. Wenn das hier einer von Hypnos sonst so einfallslosen Tests war, dann hatte er sich hierbei ziemlich viel Mühe gegeben. Ich war gespannt, was sich am Ende der Blutspur befand und beschleunigte meinen Schritt. Die Tröpfchen waren zwar äußerst klein und ein Normalsterblicher hätte ihnen mit Sicherheit keine Beachtung geschenkt, aber dennoch waren sie für mich das Auffälligste an diesem Wald und ein wichtiger Hinweis, der dazu beitrug dem Rätsel des verschwundenen Träumers auf die Spur zu gehen. Als ich zum letzten Tropfen Blut gelangte, sah ich eine weiße Gestalt im Schnee kauern. Ich ging ein paar Schritte näher heran und erkannte, dass es sich bei der Person um ein Mädchen handelte. Ihre Augen waren geschlossen und ihre dunklen Haare zerzaust. Wenn sie die Träumerin war, warum schlief sie dann in ihrem eigenem Traum? Ich kniete mich vor sie, um zu prüfen, ob das Blut von ihr kam. ,,Geh weg!", rief sie mit zittriger Stimme, was mich total aus der Fassung brachte. Hatte sie etwa mich gemeint? Als sie vom Boden aufstand konnte ich sehen, dass sie am linken Bein verwundet war. ,,Keinen Schritt näher!", befahl sie mit erhobenem Zeigefinger, während sie so lange rückwärts lief, bis sie mit dem Rücken an einen Baum stieß. ,,Du kannst mich sehen?", fragte ich erstaunt. ,,Natürlich, du siehst mich doch auch!", entgegnete sie und ließ ihren Finger sinken. Ihre Erklärung erschien mir logisch, aber da in Träumen nie etwas logisch war, war genau das, das Unlogische! ,,Niemand sonst kann mich sehen. Wurdest du von Hypnos geschickt?", setzte ich die Konversation fort, woraufhin sie mich mit einem verwunderten Blick bedachte. ,,Wer bist du?", wollte sie wissen und fixierte meinen Blick mit ihren stechend grünen Augen. Wenn Hypnos sie mit irgendeinem Test für mich beauftragt hätte, dann wüsste sie doch wenigstens meinen Namen. ,,Eine bessere Frage ist doch: Wer bist DU?", konterte ich geschickt. ,,Ich heiße Kalia", antwortete sie mit klarer Stimme. Kalia? Den Namen hatte ich noch nie zuvor gehört. Da sie mir ihren Namen verraten hatte, beschloss ich so nett zu sein und auch meine Identität preiszugeben . ,,Ich bin Morpheus, der Gott der Träume", stellte ich mich mit einer angedeuteten Verbeugung vor. ,,DU bist Morpheus?", amüsiert kicherte sie vor sich hin. Diese Reaktion hatte ich bei weitem nicht erwartet. ,,Warum lachst du?", fragte ich mit hochgezogener Augenbraue. ,,Ich hatte mir dich nicht so jung vorgestellt", gestand sie und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. ,,Wäre dir ein alter Mann mit langem, weißen Bart lieber gewesen?" Binnen Sekunden verwandelte ich mich in einen Greis und stützte mich auf einem Gehstock ab. Das war wohl eher kontraproduktiv, da sie jetzt anfing aus vollem Hals zu lachen. Mit Erstaunem stellte ich fest, dass ihre Wunde von ganz allein geheilt war. ,,Wie hast du das gemacht?", fragte ich sie verwundert. ,,Was gemacht?", sie bedachte mich mit einem fragenden Blick. ,,Deine Wunde geheilt?" Verdutzt schaute sie auf ihr Bein und wieder zu mir. ,,Ach das! Da wir uns in meinem Traum befinden, kann ich auch entscheiden, was passiert!", erklärte sie, als wäre das die logischste Sache der Welt. ,,Wer oder was bist du?", fragte ich sie verwirrt und änderte meine Gestalt wieder zu meinem normalen Ich zurück. ,,Ich bin ein Mensch. Was denn sonst?" Sie trat einen Schritt auf mich zu und musterte mich von oben bis unten. ,,Nebenbei, du siehst gar nicht göttlich aus", stellte sie scheinbar enttäuscht fest und bemerkte gar nicht, dass mich diese Bemerkung kränkte. Die menschliche Impertinenz war zu hoch! Sie erkannten nicht mal einen Gott, wenn er leibhaftig vor ihnen stand! ,,Denkst du nicht ich habe besseres zu tun, als mich mit einem Menschen zu unterhalten?" Ihr Lächeln verschwand auf einmal und ich dachte darüber nach mich zu entschuldigen, obwohl sie eigentlich diejenige war, die sich hätte entschuldigen müssen. ,,Ich möchte dich nicht bei deinen wichtigen göttlichen Angelegenheiten stören", entgegnete sie betont gleichgültig. Sie war zwar ein Mensch, hatte aber allem Anschein nach einen freien Willen und noch dazu die Fähigkeit ihren Traum zu lenken. War sie womöglich ein Oneironaut? Normalerweise war die Gabe der Bestimmung des Traumgeschehens mir vorbehalten, weshalb mich die Tatsache, dass wir uns gerade unterhielten umso mehr faszinierte. ,,Das tust du nicht. Du wirst zu meiner Angelegenheit, sobald du die Traumwelt betrittst." Ein sich immer wiederholender Piepton unterbrach unser Gespräch. ,,Oh nein!", rief sie und griff nach meiner Hand. ,,Was ist los?", fragte ich besorgt. ,,Das ist mein Wecker in der Realität! Ich muss den Traum stabilisieren und das geht nur, wenn ich mich an etwas festhalte, sonst wache ich auf!", erklärte sie schnell, aber das laute Geräusch wollte und wollte nicht aufhören. Auch meine Kraft war nutzlos, was wohl daran lag, dass dieses Geräusch aus ihrer Welt kam, der "Realität". Aber für mich fand in der Traumwelt das echte Leben statt, da ich von hier nicht weg konnte. Kurz darauf legte sich ein dunkler Schleier über den Wald und Stück für Stück verschwand jedes einzelne Element aus Kalias Traum. Zuerst die Bäume, dann der Schnee und zuletzt Kalia. 

Da machte man mal eine neue Bekanntschaft und sie löste sich einfach in Luft auf! Regungslos ließ ich mich von der Dunkelheit, die Kalias Traum hinterlassen hatte, einhüllen und dachte über das, was geschehen war, nach. Wie war es möglich, dass mich ein Mensch sehen konnte? In allen anderen Träumen war ich nur ein unsichtbarer Beobachter, der jedoch die Macht besaß in den Traum einzugreifen, wenn es ihm danach beliebte. Warum war das in Kalias Traum nicht so gewesen? Ich redete mir ein, dass sie die Begegnung mit mir sowieso vergessen würde; auch wenn sie eine Oneironautin war, hieß das noch lange nicht, dass sie sich an alle ihre Träume erinnern konnte. Trotzdem ging mir das Mädchen irgendwie nicht mehr aus dem Kopf...

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