Kalia

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,, Blöder Wecker!“, fluchte ich und stellte den nervtötenden Piepton aus. Seufzend ließ ich mich zurück in mein Bett fallen und versuchte mich krampfhaft daran zu erinnern, was ich geträumt hatte. Ich schaltete meine Nachttischlampe an und schnappte mir mein Traumtagebuch, welches sich immer in greifbarer Nähe zu meinem Bett befand, um die restlichen Fragmente, die mir von meinem Traum in Erinnerung geblieben waren, zu notieren.

Ich befinde mich in einem Wald. Überall ist Schnee. Aus dem Nichts fällt mich ein grauer Wolf an, dessen Zähne sich in meinem Bein festbeißen. Panik breitet sich in mir aus. Mein Blick fällt auf seine Augen, die beide rot funkeln, und ich stelle mir die Frage, ob es wirklich Wölfe mit roten Augen gibt. Was mache ich überhaupt allein in einem Wald? Warum liegt hier Schnee, obwohl doch Sommer ist? All diese Dinge sind Indizien dafür, dass ich gerade träume! Ich werde schlagartig luzid und schaffe es den Wolf abzuschütteln. Ich nehme Anlauf, drücke mich mit beiden Füßen vom Boden ab und fliege in die Luft. Der Wind bläst angenehm durch meine langen Haare und ich genieße die atemberaubende Aussicht auf den verschneiten Wald. Für einen Moment passe ich nicht auf und fliege mit voller Kraft gegen eine hohe Tanne. Plötzlich verliere ich die Fähigkeit zu fliegen und schlage wie ein vom Himmel fallender Engel auf dem Boden auf. Für einen Moment bleibe ich regungslos auf dem kalten Schneeboden liegen, unfähig die Augen zu öffnen. Ich höre Fußschritte im Schnee. Jemand oder etwas kommt näher. Als ich die Augen aufschlage, sehe ich einen Jungen in meinem Alter vor mir knien. ,, Geh weg!“, schreie ich ihn an und nehme reflexartig ein paar Schritte Abstand.

Was hatte ich danach getan? Angestrengt dachte ich über jedes noch so kleine Detail aus meinem Traum nach. Ich hatte mich mit dem Jungen unterhalten! Aber worüber hatten wir gesprochen? Das wollte mir einfach nicht mehr einfallen. Wahrscheinlich war er sowieso nichts weiter als eine von meinem Unterbewusstsein erschaffene Traumfigur gewesen. Trotzdem ließ mich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas Wichtiges passiert war. Jetzt hatte ich aber keine Zeit weiter darüber nachzudenken, da ich mich für die Schule fertig machen musste. Schnell schlüpfte ich ins Bad, um mich vor dem Frühstück noch frisch zu machen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon halb sieben war, was bedeutete, dass ich mich nun beeilen musste. Nachdem ich mich geduscht und angezogen hatte, ging ich in die Küche, in der mich meine Mutter bereits mit einer Tasse Tee und einem Pfannkuchen, belegt mit einem lächelnden Gesicht aus Blaubeeren, erwartete. ,, Na, hast du gut geschlafen?“, fragte sie mich lächelnd und setzte sich zu mir an den Tisch. ,, Ja, aber leider kann ich mich nicht mehr an meinen ganzen Traum erinnern“, antwortete ich leicht betrübt und nahm vorsichtig einen Schluck aus der dampfenden Teetasse. ,, Du wirst sehen, im Laufe des Tages wird dir bestimmt wieder alles einfallen!“, versuchte sie mich aufzumuntern. ,, Ich hoffe es“, gab ich zurück, ehe ich mich voll und ganz meinem lecker duftenden Pfannkuchen widmete. Nachdem ich aufgegessen hatte, schnappte ich mir meine Schultasche und machte mich, wie jeden Morgen, auf den Weg zur Bushaltestelle.

Erstaunlich viele Leute liefen in T-Shirts und - für meinen Geschmack - zu knappen Hosen auf der Straße herum, was nicht zuletzt daran lag, dass es ein ziemlich heißer Septembertag war. Das neue Schuljahr hatte erst vor wenigen Wochen begonnen und mir war es bis jetzt nicht gelungen neue Freunde zu finden. Mit diesem Problem hatte man wohl immer zu kämpfen, wenn man 'die Neue' an einer Schule war. Mein Montagmorgen fing schon mal super an mit einer Doppelstunde Mathe, meinem Hass-Fach. Der Lehrer, Mr. Jenkins, war ein alter, vertrottelter, aber gutmütiger Kerl, der immer bemüht war seine Schüler für Zahlen und die Lösung von mathematischen Problemen zu begeistern. Sein Enthusiasmus war allem Anschein nach zu den meisten aus meinem Kurs - mich eingeschlossen - noch nicht durchgedrungen, was ihn aber in keinster Weise davon abhielt weitere unerträgliche 60 Minuten auf uns in einer Formelsprache, die die wenigsten verstanden, einzureden. Als der erlösende Schulgong die Pause einläutete, packte ich schnell meine Bücher zusammen und verschwand schleunigst aus dem Klassenzimmer. ,, Kalia!“, hörte ich jemanden in der Menschenmenge nach mir rufen. Verwirrt drehte ich mich um, nach der Quelle des Schreis suchend. Als die Schülermasse allmählich in Richtung Schulhof abebbte, kam ein zierliches, blondes Mädchen, das in meinem Mathe-Kurs eine Reihe vor mir saß, auf mich zu. ,, Da du hier noch relativ neu bist, wollte ich dich fragen, ob du vielleicht Lust hast in der Mittagspause mit mir essen zu gehen. Du kennst wahrscheinlich erst relativ wenige Leute, stimmt‘s?“, sie lächelte mich freundlich an, während ich überlegte, wie ich mich entscheiden sollte. Normalerweise hätte ich ganz alleine in der Bibliothek mein Lunchpaket verdrückt, aber jetzt, wo endlich jemand auf mich zukam, sollte ich mir die Chance eine neue Freundschaft zu beginnen, nicht entgehen lassen. ,, Ja, das wäre toll. Wie heißt du nochmal?“, fragte ich sie nun auch lächelnd. ,, Ich bin Selene. Oh, ich muss noch etwas erledigen, wir sehen uns später!“, mit diesen Worten lief sie um die nächste Ecke, sodass ich ganz allein im Gang zurückblieb. Noch immer ging mir der Traum der letzten Nacht nicht aus dem Sinn. Ich wollte mich unbedingt daran erinnern, wie es weitergegangen war. Eine trübe Erinnerung blitzte kurz auf. Ein Name. Morpheus. War das der Name des Jungen? Ich konnte es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen.

Nach zwei weiteren Doppelstunden, Geschichte und Englisch, machte ich mich auf den Weg zur Schulcafeteria, in der mich Selene schon an einem Tisch sitzend zu ihr winkte. Zusammen holten wir uns je eine Portion Spaghetti Bolognese und setzten uns gegenüber voneinander hin. ,, Mrs. Murphy hat uns heute in Englisch mega viel Hausaufgaben aufgegeben! Wir sollen bis Freitag einen fünfseitigen Aufsatz schreiben! Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll...“, seufzte sie und stopfte sich eine vollgehäufte Gabel Spaghetti in den Mund. ,, Meine Englischlehrerin ist da etwas gnädiger. Wir müssen nur drei Seiten zu einem Thema unserer Wahl schreiben und haben dafür zwei Wochen Zeit“, fügte ich neutral hinzu. ,, Hey, Selene!“, ein großer blonder Junge, der ein Superman-T-Shirt an hatte, setzte sich zu uns an den Tisch. ,, Wer ist denn deine neue Freundin?“, fragte er und musterte mich mit einem Grinsen. ,, Das ist Kalia. Sie ist erst seit Anfang des Schuljahrs auf dieser Schule und kennt daher noch kaum jemanden“, erklärte sie in einem freundlichem Ton. ,,Kalia...schöner Name. Ich bin Riley“, stellte er sich mit einem sympathischen Lächeln vor. ,, Wenn du mal jemanden brauchst, der dir die Schule zeigt, bin ich gerne für dich da“, bot er mir mit einem kleinen Augenzwinkern an, ehe er sich mit Selene angeregt über irgendeinen Actionfilm unterhielt. Nachdem ich aufgegessen und mein Tablett weggebracht hatte, verabschiedete ich mich von Selene und Riley. ,, Tschüss, wir sehen uns morgen!“, rief mir Selene noch hinterher, ehe ich auf den Ausgang der Cafeteria zusteuerte. Jetzt musste ich zum Glück nur noch zwei Stunden Sport ertragen, bis ich wieder nach Hause gehen konnte.

Morpheus. Der Name wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Mein Gehirn wollte mir wohl einen Streich spielen, wenn es mir eine Begegnung mit dem Gott der Träume vorspielte. Zu gern hätte ich mich daran erinnert, was ich zu ihm gesagt hatte, aber mehr als der Austausch unserer Namen fiel mir nicht mehr ein. Auf der Busfahrt hatte ich nochmals angestrengt über meinen Traum nachgedacht, aber alles half nichts! Vielleicht würden wieder mehr Details ans Licht kommen, wenn ich aufhörte darüber zu grübeln. Umgekehrte Psychologie nannte man diese Taktik. Ich verstand noch immer nicht, was diesen Traum von all meinen zahlreichen anderen Träumen unterschied. Irgendwie war mir alles viel lebendiger, viel echter vorgekommen, aber wahrscheinlich hatte ich mir das nur eingebildet. Seitdem ich vor einem Jahr damit angefangen hatte meine Träume genauer zu analysieren, meinte ich in jede Kleinigkeit eine Bedeutung hinein interpretieren zu können. Als ich bei einer meiner Traumdeutungssuchen im Internet über das sogenannte ,,luzide träumen" stolperte, musste ich sofort alles darüber erfahren und wollte es natürlich gleich ausprobieren. Das stellte sich anfangs als etwas schwierig heraus, aber mit der Zeit lernte ich welche Techniken mir halfen gezielt einen Klartraum, also einen Traum, den ich selbst lenken konnte, einzuleiten.

Als ich mich an diesem Abend zu Bett begab, beschloss ich den Traum einfach auf mich zukommen zu lassen. Mit einer Autosuggestion (,,Ich werde mich an meine Träume erinnern!") brachte ich mich schnell zum Einschlafen. Ich vertraute darauf, dass ich mich am nächsten Morgen an mehr, als nur einen bruchstückhaften Fetzen eines Traums erinnern würde. Jetzt lag es nicht mehr in meiner Hand, auf was oder wen ich während meiner REM-Phase (Rapid-eye-movement) treffen würde. Traumstücke tauchten vor meinem inneren Auge auf und ich wusste, dass ich bereits dabei war in einem neuen Abenteuer zu versinken...

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