Roter Schnee

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»Sag, wer irrt dort durchs Bergestal?

In Einsamkeit und Seelenqual.

Führst du den Mann zu seinem Haus?

Brichst du den Bann des Felsengraus?«

DRITTE STROPHE DES GEDICHTS

»AUF DEINEM WEG«

Der Wind im Gion-Gebirge war nicht nur sehr stark, sondern auch fürchterlich kalt. Schon als Mangayam sie den ersten Berghang hochgeführt hatte, hatte Tara gefroren, doch nun waren sie bereits zwei Tage zwischen dem teils kahlen, grauen und teils schneebedecktem Fels unterwegs und sie fürchtete, bald zu vergessen, was das Wort ›Wärme‹ bedeutete. Hier war es ganz anders als im Perlenwald, wo es in den Schatten vielleicht etwas kühler war, man sich aber immer auf eine sonnenbeschienene Lichtung zurückziehen konnte, um sich aufzuwärmen. Yatepa schien es genauso zu gehen, aber er schwieg die meiste Zeit nur, war tief in Gedanken versunken. Wenn Tara bemerkte, dass die Kälte wieder seinen gesamten Körper zittern ließ und seine Lippen blau wurden, bat sie Mangayam um eine Rast. Der Elf nickte jedes Mal wortlos, hielt an und entzündete mit zwei Feuersteinen und einigen herumliegenden, vertrockneten Pflanzen oder Ästen ein kleines Feuer. Dann lehnten sie sich alle an den warmen Körper der weißen Stute, Nella, und streckten ihre Hände den heißen Flammen entgegen.

»Er scheint gar keine Kälte zu spüren«, flüsterte Tara Yatepa leise zu, während sie näher zum Feuer rückte. Mangayam war, nur mit seinem Dolch bewaffnet, in die Dämmerung verschwunden, um etwas zu essen für sie zu jagen. Bisher war er stets mit einem Hasen oder einem großen Vogel zurückgekehrt, den Tara nicht kannte, der aber köstlich schmeckte, wenn man ihn briet.

»Er ist ein Elf«, entgegnete Yatepa gleichgültig, ebenfalls mit gesenkter Stimme. Sie unterhielten sich leise, um keine etwaigen Raubtiere anzulocken. Ursprünglich hatte Tara gedacht, sie würden das Gion-Gebirge auf der großen Handelsstraße durchqueren, über die anscheinend die meisten Wesen nach Zowuza kamen. Doch aus irgendeinem Grund hielt Mangayam sich abseits davon und wählte einen kaum sichtbaren Pfad, den nur seine Elfenaugen klar sehen konnten.

»Warum hast du eigentlich beschlossen, dass wir mit ihm gehen?«, fragte Yatepa auf einmal. »Wir sind ihm nur eine Last. Schuld hin oder her.«

Tara wusste, dass diese Frage irgendwann kommen würde. Während der ersten Tage ihrer Reise war er noch still und in sich gekehrt gewesen. Der Kopf wahrscheinlich voller Gedanken über Nurov, vielleicht auch über die Dryade. Er hatte nicht viel gesprochen. Nicht mal mit ihr. Sie hatte auch nicht darauf bestanden. Cor hätte ihr bestimmt empfohlen, ihm etwas Zeit für sich zu lassen, so wie er es getan hatte, wenn einer der Wolfsleute trotz seiner Bemühungen gestorben war und die Familie um den tapferen Jäger und Kämpfer trauerte.

»Warum gehen wir ins Gion-Gebirge, wenn Nurov und die Dryade doch noch in Zowuza sind?«, fragte Yatepa erneut. Die Stimme war dieses mal etwas rauer, fast ein heiseres Krächzen.

»Ich habe Nurov versprochen, auf dich aufzupassen«, antwortete Tara vorsichtig und legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Er wollte nicht, dass wir zurückkehren. Der General könnte uns sonst ebenfalls...« Sie sprach das Wort nicht aus, das auf ihrer Zunge lag, aber Yatepa verstand sie auch so. Er schloss die Augen und drehte seinen Kopf zur Seite, sodass das Feuer ihm nicht mehr direkt ins Gesicht schien und stattdessen einen Schatten über seine Augen warf. Tara brach es das Herz, ihn so zu sehen. Sie wusste, was es bedeutete, jemanden zu verlieren, den man liebte, aber sie fühlte sich vollkommen hilf- und nutzlos. Was kann ich sagen? Was kann ich tun? Sie erinnerte sich daran, dass Cor sie oft umarmt hatte, als sie klein war. Etwas zögerlich streckte sie eine Hand nach Yatepa aus.

Goldene TräumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt