Im ›Hirsch‹

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»Königin Quesa,

ich schreibe Euch in größter Trauer,

da mich soeben die Nachricht ereilt hat,

Euer Ehemann, König Yiramon,

sei im Schwesterkrieg an der Front gefallen.«

AUS DER SAMMLUNG

»BRIEFE DES FÜRSTEN EVENTELL AR GIZZA«

Es war reger Betrieb im Wirtshaus Zum kochenden Hirsch. Soldaten der Stadt standen grölend an der Theke, hinter der ein junges Mädchen versuchte, in aller Eile alle Bestellungen aufzunehmen. Einer der Männer packte eine vorbeieilende Kellnerin am Arm und zog sie zu sich auf den Schoß, woraufhin sie ihm den Ellenbogen ins Gesicht stieß und das Weite suchte. In einer anderen Ecke hockten groteske Menschengestalten regungslos um einen Tisch und blickten starr in ihre Gläser. Yudra hatte solche Gestalten schonmal in Jami gesehen. Meistens hatten sie kurz zuvor Drogen zu sich genommen oder zu viel geraucht. Beinahe vollständig heruntergebrannte Kerzen in staubigen Leuchten verbreiteten viel zu wenig Licht, sodass die meisten anderen Gäste in den Schatten verborgen waren.

Die Dryade blickte verstört zu Beihun. Der Sohn des Denkers ihr gegenüber wollte mit seinem weißen Gewand und den himmelblauen Augen einfach nicht in diese dunkle Atmosphäre hinein passen. Sie allein war schon auffällig genug, besonders, weil ihre Ausstrahlung als Fee immer noch auf die Außenstehenden wirkte wie Taana-Kraut. Dass zwei solcher seltsamen Gestalten nun zusammen an einem Tisch saßen, erregte daher mehr Aufmerksamkeit als Yudra lieb war. Schon bahnte sich eine füllige Kellnerin mit fettigen, dunkelbraunen Haaren einen Weg durch die restlichen Gäste auf sie zu.

»Ihr seid nicht von hier«, grunzte die Frau sie als Begrüßung an. Bevor die Dryade ihr etwas entgegen schleudern konnte, fuhr sie jedoch schon fort: »Der Hirsch freut sich immer über neue Kunden wie euch. Das bringt etwas Anstand in dieses Irrenhaus. Was darf ich euch bringen?«

Beihun bedeutete der Erdfee mit einer Handbewegung, zuerst zu bestellen. »Wasser«, murrte sie deshalb nur. Die Kellnerin wirkte enttäuscht und wandte sich nun an den Wächter des Wissens in der Hoffnung, etwas Originelleres als Antwort zu bekommen.

»Für mich auch ein Glas Wasser, danke.« Er holte sechs Urur aus seinem Geldbeutel und legte sie auf den Tisch. Sofort verschwanden die Münzen in der weißen, aber fleckigen Schürze der Frau, die gleich darauf wieder davoneilte. Kaum war sie gegangen, lehnte Yudra sich so weit über den Tisch wie sie konnte.

»Warum beim Reich des Dunklen hast du mich hierher gebracht?«, zischte sie ihrem alten Freund zu. »Alle hier«, sie senkte ihre Stimme noch weiter, »sind entweder Nichtsnutze oder reiche Leute, die glauben, sie können sich alles gefallen lassen. Das wird nicht gut enden. Wenn sie erfahren, dass ich eine Fee bin...«

»...werden sie den Hirsch sofort verlassen«, beendete Beihun ihren Satz und lächelte belustigt. »Die Menschen und auch die meisten der anderen Völker fürchten sich vor euch. Sie denken, dass die Feen Schuld an den Schatten und den Überfällen auf die Städte im Norden sind. Vielleicht stimmt es ja.«

Fassungslos runzelte die Dryade die Stirn. »Ich dachte, wir sind Freunde!«

»Natürlich sind wir das.« Der Wächter des Wissens legte seine Hand auf die ihre, doch sie zog sie schnell zurück. Beihun atmete schwer auf. »Aber es gibt diese ganzen Gerüchte, dass eine Fee in die Fußstapfen der sechsten Pixie getreten ist. Vielleicht ist es sogar Zacharia selbst, die sich erneut erhoben hat. Du warst noch nicht entsprungen, aber ich lebte bereits während des Schwesterkrieges und habe die Gräuel gesehen, die Schwarze Magie anstellen kann. Die sechste Pixie erschuf Wesen aus Feuer und Asche, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Manchmal war der Himmel zehn Jahre lang von ihrem Getier verdunkelt. Könige, die versucht haben, gegen sie zu kämpfen, fielen an der Front wie die Blätter der Bäume in den Totmonden und hinterließen trauernde Mütter und Ehefrauen. Die Länder der Goldenen Welt waren von Beginn an dem Chaos und dem Krieg geweiht. Und es waren zwei Feen, die dafür verantwortlich waren. Nun haben die Völker Angst, dass das erneut passieren wird. Und diesmal wird es in Alarchia beginnen.« Er schaute sie mit seinen himmelblauen Augen an wie ein besorgter Vater seine Tochter. »Solange du dich nicht als Fee zu erkennen gibst, ist alles gut.«

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