Der beste Freund meines Bruders - Kapitel 2

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Der nächste Tag war entspannt. Ich stand erst spät auf und fühlte mich beinahe wieder ganz gesund, als ich in die Küche schlurfte und mir Frühstück machte. Dabei fiel es mir schwer, meine Gedanken von dem attraktiven Freund meines Bruders wegzulenken. Seine blauen Augen aus meinem Kopf zu vertreiben und das leichte Flattern in meinem Bauch zu beruhigen war schwerer als es hätte sein sollen. Ich kannte Kal ja nicht einmal, wir hatten uns gestern das erste Mal gesehen und ich war nicht gerade im besten Zustand gewesen, aber etwas an ihm hatte mich fasziniert. Und er war so nett gewesen, als er mir ein Brot geschmiert hatte, sein Lächeln war mir so warm und aufrichtig erschienen.

Um die Gedanken zu vertreiben, hatte ich mich den restlichen Tag über aufs Sofa gesetzt und eine meiner Lieblingsserien geschaut. Es war Freitag, deshalb musste Gordon arbeiten und ich hatte die Wohnung meines Bruders für mich allein. Gegen Mittag ging ich einkaufen. Nur ein paar Kleinigkeiten. Wenn ich mich schon bei meinem Bruder verkroch, dann wollte ich ihm wenigstens einen Teil seiner Arbeit abnehmen, um ihm nicht allzu sehr zur Last zu fallen.

Gordon verlangte nichts von mir. Kein Geld, keine Mithilfe oder Ähnliches. Er war schon immer so gewesen. Immer gerne bereit zu helfen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Ganz der wohlerzogene Junge meiner Eltern. Im Gegensatz zu mir. Mir waren die Ansprüche zu viel geworden. Das Gefühl immerzu mit meinem älteren Bruder verglichen zu werden, der Vorwurf versagt zu haben. Deshalb war ich nach New York gezogen und hatte dort studiert. Und das war der Grund weshalb ich nicht zu meinen Eltern nach Ashwood zurückgekehrt war. Mir vorwerfen zu lassen, dass ich kein Arzt, wie Gordon sondern, eine Grundschullehrerin werden wollte, war schlimm genug, aber Niall war in den Augen meiner Eltern mein einziger Erfolg gewesen und zu gestehen, dass ich auch das vermasselt hatte, wäre zu viel für mich.

Mein Bruder hat mir versprochen, dass er meinen Eltern nichts sagen würde, nicht, solange ich hier war. Und er machte mir auch keinen Vorwurf aus dem was passiert war, oder dass ich einfach abgehauen war, ohne daran zu denken, was mit dem Rest meines Lebens war. Mit dem College, meiner Arbeit.

Nach einem Monat hatte ich mich entschlossen nichtmehr nach Amerika zurückzukehren. Ich hatte meinen Job gekündigt und mein Studium an der NYU abgebrochen, aber mir war klar, dass es so wie jetzt nicht für immer laufen würde. Irgendwann musste ich mir einen neuen Studienplatz irgendwo suchen, ebenso wie eine eigene Wohnung, aber jetzt schien mir das alles noch zu viel.

Ich hatte mich gerade wieder zurück auf Sofa bequemt, als hinter mir die Wohnungstüre aufging. Überrascht drehte ich mich um, normalerweise kam mein Bruder nicht vor sechs Uhr heim, wenn er arbeiten musste, aber jetzt war es gerade mal fünf. Gordons Wohnung war zwar groß, aber sehr offen, sodass ich von Wohnraum aus einen guten Blick bis zur Tür hatte. Und ich runzelte die Stirn, als ich in der Türe nicht meinen Bruder, sondern Kal entdeckte.

Er sah mich auf dem Sofa sitzen und lächelte mich von weitem an. „Hey Alisa, wie geht's?", rief er mir quer durch die Wohnung zu und mir fiel auf, dass er eine Einkaufstüte im Arm hatte.

„Hey", antwortete ich zögerlich und stand vom Sofa auf. „Gordon ist nicht da."

Er zwinkerte mir zu, während er die Einkäufe auf die Kücheninsel stellte. „Ich weiß, ich wollte nicht zu ihm", sagte er und sah mich an. Etwas an der Selbstverständlichkeit, wie er die Tüten ablegte und mir zulächelte, als wären wir bereits Freunde, wärmte mich von innen.

Verwirrt runzelte ich die Stirn und kam mit der Fernbedienung in der Hand einige Schritte von Wohnzimmer auf die Küche zu. Von der anderen Seite der Insel, sah ich Kal an. „Soweit ich weiß, wohnt hier sonst niemand."

Er legte den Kopf schief und sein Lächeln wurde breiter. „Naja, da ist dieses blonde Mädchen mit Sommersprossen, dass seit neustem auch hier wohnt."

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