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Zur Pause war ich bereits ziemlich gut gelaunt. Überhaupt zur Staatsmeisterschaft zu dürfen und mich dann auch noch für die finalen Runden zu qualifizieren, fühlte sich an wie ein Traum. Mom hatte es endlich geschafft und begrüßte mich stürmisch, als wir uns in der Vorhalle trafen.

„Oh Tillie, ich bin so stolz auf dich!", rief sie und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

„Ich auch", sagte Dad hinter ihr und schenkte mir ein warmes Lächeln. „Es ist so schön, dir wieder dabei zuzusehen, während du etwas tust, was du liebst." Ich nahm ihn in den Arm, jetzt da keine Coaches um uns herumstanden.

„Dad, machst du dir jetzt selbst Komplimente, oder was? Ich liebe das Schwimmen doch eh nur deinetwegen."

„Ich bin auch sehr stolz auf mich, dass ich das so gut in dich eingetrichtert bekommen habe", lachte er und Mom sah lächelnd zu ihm auf.

Seit vier Jahren hatte ich die beiden nicht mehr zusammen gesehen und es war ein sehr interessanter Anblick, von dem ich nicht wusste, ob er mir gefiel. Ich entschuldigte mich und schnappte mir noch einen Proteinriegel.

Während ich aß, fiel mein Blick auf Dale und Coach Nick, die in einer Ecke standen. Der Coach redete mal wieder auf Dale ein, während dieser unbeeindruckt durch die Gegend starrte. Nach einer kurzen Weile nickte er und ging dann durch die Tür, die in den Flur zu den Becken führte.

Mom und Dad waren gerade in einem tiefen Gespräch verwickelt, also sagte ich ihnen nicht Bescheid, als ich den Raum durch die Tür verließ, durch die Dale gerade gegangen war. Ich kam an den Toiletten vorbei und keine zwei Sekunden später kam Dale aus der Herrentoilette. Als er mich sah, runzelte er die Stirn.

„Dale, ich... können wir uns kurz unterhalten?", fragte ich.

Er nickte und ging den Flur weiter runter, bis wir die Tür zum Treppenhaus erreichten. Ich erinnerte mich an unsere letzte Treppenhausbegegnung, verbannte den Gedanken aber ganz schnell wieder aus meinem Kopf. Dale setzte sich auf den Treppenansatz und vergrub sein Gesicht in den Händen. Ich lehnte mich an die Wand gegenüber von ihm.

„Ich wollte mich für meine komische Ansprache letztens entschuldigen", stammelte ich. „Das war irgendwie... unsensibel. Das wollte ich nicht, entschuldige bitte."

Dale seufzte. Er ließ die Arme sinken und sah vor seine Füße auf den Boden. „Ich weiß... ich weiß, du meintest es nur gut. Aber", er seufzte noch einmal, „Scheiße, das ist einfach zu viel Druck. Die beschissenen Coaches. Stipendium hier und da. Du. Das ist mir gerade einfach alles zu viel."

Mein Herz machte einen Sprung, als er Du sagte. Ich schluckte schwer, als dieses kleine Wort eine ganze Welle an Gefühlen in mir hochschwemmte. Tief atmete ich durch, dann ging ich einen Schritt auf ihn zu und hockte mich vor ihm hin. 

Er sah auf und in seinem Blick lag so viel Traurigkeit, dass ich ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. Doch auch wenn ich so tat, als wäre ich drüber hinweg, würde ich das nicht aushalten.

„Dale, was auch immer dich alles plagt, egal, wer heute zusieht und egal, was zwischen uns passiert ist... du darfst dir darüber heute nicht den Kopf zerbrechen. Heute geht es nur um dich. Du musst dich auf dich konzentrieren, auf dein Jetzt, auf deine Zukunft. Du darfst nicht zulassen, dass deine Emotionen dich runterziehen, denn dafür bist du einfach zu gut, in dem was du tust. Du bist wahrscheinlich einer der besten Schwimmer in diesem Land oder hast auf jeden Fall das Potenzial dazu, einer zu werden, und ich weiß, dass du das willst und ich weiß, dass du das schaffen kannst, also hör jetzt auf mich, okay? Dein Traum liegt dir zu Füßen, also ergreif ihn. Tu es für dich und nur für dich. Du hast so hart dafür gekämpft und verdienst es."

Ich griff seine Hand und drückte sie voller Zuversicht. „Ich weiß, dass du es in dir hast, Dale, also nutze deine Kraft. Nutze deine Stärken. Finde die Ruhe in dir, die du bei der Regionalmeisterschaft hattest, als du einfach mit einem riesigen Abstand gewonnen hast. Das war kein Glück, Dale. Das warst allein du."

Das Signal zum Pausenende ertönte. Ich nahm meine Hand von seiner und stand auf.

„Und jetzt zeig's ihnen", sagte ich zu Dale, der ungläubig zu mir aufsah. Dann verließ ich das Treppenhaus.

Ich ließ meinen Blick durch die Halle schweifen. Meine Ansprache an Dale hatte mich auch ein wenig motiviert. Ich tat das hier für mich und für keinen Coach oder Dad oder sonst wen. Aber Mom und Dad und der Coach des St. Francis Colleges sahen voller Zuversicht zu mir herunter und auch meine Teamkollegen drückten mir die Daumen. Mein Mund verzog sich zu einem Lächeln.

Ich stieg auf den Startblock und begab mich in Position. Neben mir war das Mädchen aus Rochester, die heute Morgen im Hotel mit Dale geflirtet hatte, und in mir wuchs der Wunsch, dieses Rennen zu gewinnen. Ich atmete noch einmal tief durch, dann wurde gepfiffen und ich sprang ins Wasser.

Ich peitschte in langen Zügen durch das Becken, bis ich den Rand berührte, umdrehte und auf dem Rückweg fast die Kraft verlor. Nein. NEIN, schrie mein Gehirn und anstatt langsamer zu werden, nahm ich nochmal Schwung auf und peitschte mit einer Geschwindigkeit durch das Wasser, die meine Lunge zerriss und meine Muskeln vernichtete.

Ich kam an und sah zur Seite. Das Mädchen aus Rochester schwamm gerade ihre letzten zwei Meter. Triumphierend grinste ich zur Anzeigetafel hoch und fasste es nicht. Ich hatte allen Ernstes bei der Staatsmeisterschaft Silber geholt.

Überglücklich fiel ich den anderen in die Arme, als ich wieder bei der Bank ankam. Ich sah zu meinen Eltern hoch, die total aus dem Häuschen waren und der Coach neben Dad schrieb sich zufrieden lächelnd etwas in seinen Block. Langsam ebbte das Jubeln ab, als die Jungen sich für den Sprint bereitstellten, und unsere Aufmerksamkeit richtete sich auf das kommende Rennen.

Dale stand vor seinem Block und atmete einige Male tief durch. Dann schritt er auf den Startblock und sah mich an. Mein Herz, das sich gerade wieder etwas beruhigt hatte nach dem Rennen, fing an wie wild zu schlagen. Sein Blick entspannte sich und ich meinte, dass sich sein Mund zu einem kleinen Lächeln verzog. Dann setzte er sich die Schwimmbrille auf die Augen und begab sich wie seine Mitstreiter in Position.

Es dauerte keine fünf Sekunden, bis wir erkannten, dass Dales Leistung seinem Höchststandard entsprach. Seine Konkurrenten hatten keine Chance. Aufgebracht jubelten wir ihn an, der Coach raufte sich die Haare und dann war es wie bei der Regionalmeisterschaft: Er hatte Gold geholt.

Die Menge tobte und Coach Nick hob beide Fäuste und versuchte seine Freude in Schach zu halten. Dale kam aus dem Becken und riss sich die Brille und die Kappe vom Kopf. Er kam auf uns zu und Carter und Kevin liefen ihm schon entgegen und umarmten ihn stürmisch. Doch seine Augen lagen auf mir und als er einige Sekunden später bei unserer Bank ankam, riss er mich an sich und umarmte mich so doll, dass mir fast die Luft wegblieb.

„Danke, Tillie", murmelte er und drückte mir einen Kuss auf den Kopf. Dann riss Coach Nick ihn von mir ab, um ihn selbst vor Stolz zu zerdrücken.

Als Dale in der zweiten Disziplin auch Gold holte, waren wir nicht mehr zu halten. Es war als würden wir träumen. Claire und ich lagen uns hüpfend in den Armen und als Dale mich diesmal umarmte, wusste ich nicht, ob es Poolwasser von seinem nassen Körper war oder Tränen, die mir vor Glück über die Wangen liefen. Carter schaffte in seiner Disziplin den fünften Platz und beim Brustschwimmen war ich so vollgepumpt mit Glückshormonen, dass ich immerhin den vierten Platz machte. Und dann hatten wir es geschafft. 

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