V. Überraschung

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Ich gehe zum Lichtschalter und versuche ihn anzuschalten, doch vergeblich. „Stromausfall.", sage ich und frage mich, wie die Situation noch beschissener werden könnte. Maya schaut mich ratlos an. Sie kann nichts für ihre Masterarbeit tun, da wir weder W-LAN noch Strom haben. Auch das Handy-Netz ist schwach, es reicht jedoch fürs SMS-Schreiben.

„Hey Papa, sitze nach wie vor im Hostel fest. Brauchst dir keine Sorgen machen, bin in guten Händen und habe liebe Menschen kennengelernt. Ich rufe dich an, sobald ich in meiner Wohnung bin, was hoffentlich morgen der Fall sein wird. Hab dich lieb, Anea.",

schreibe ich und tippe auf senden.
„Und nun?", frage ich Maya. „Ich frage mich was Mexi und Daniel jetzt wohl machen, wo ja kein Strom mehr da ist."
Wir gehen auf den Flur, wo uns ein Paar aus dem Bus entgegen kommt. Sie grüßen uns mit einem bedrückten ‚Hallo' und gehen auf ihr Zimmer, welches ein paar Türen weiter liegt.
Im ersten Obergeschoss des Hostels angekommen, betreten Maya und ich den Aufenthaltsraum und erblicken zwei schlafende Menschen in einem dunklen Zimmer: Mexi ist auf dem Sessel und Daniel auf dem Sofa eingeschlafen. Auf ihren Schößen liegen die Playstation-Controller.
„Wie Süß.", flüstere ich Maya zu. „Sie waren bestimmt zu müde um sich über den Stromausfall zu ärgern.", kichert sie. Wir schließen die Tür. „Anea, ich glaube ich lege mich auch nochmal hin." - „Ich komm' mit.", erwidere ich.
Zurück im Zimmer, entkleiden wir uns bis auf unsere Unterwäsche. Maya begibt sich in ihr Bett und ich mich in meins.
Ich blicke auf die Uhr, es ist kurz nach halb zehn und ich stelle einen Wecker auf 13 Uhr. „Vielleicht geschieht ja ein Wunder und wir können doch schon heute Nachmittag nachhause fahren.", sagt Maya mit einem Hauch von Ironie. Ich schließe meine Augen und spüre, wie sich mein Körper wie ein Stück Holz auf die harte Matratze legt. Wenigstens ist das Kissen weich, mein Gesicht schmiegt sich an den angenehmen Stoff und ich schlafe direkt ein.

„Oh, Maya und Anea schlafen noch.." - „Ich brauche nur mein Ladekabel.", flüstert Mexi. In diesem Moment bin ich wach geworden, jedoch drehe ich mich nicht um, sondern tue so, als würde ich noch schlafen. Ich höre, dass Mexi zu seinem Rucksack schleicht, welcher auf seinem Bett liegt. Er öffnet den Reisverschluss, versucht sein Ladekabel herauszunehmen und zieht sämtlichen anderen Kram mit hinaus, welcher anschließend auf den Boden fällt. Ich drehe mich um und schau über das Geländer: Mexi steht mit erschrocken Gesicht zwischen den zwei Hochbetten und prüft, ob wir wach geworden sind. Ich schau auf dir Uhr: es ist 12:49 Uhr.
„Hey, sorry..", flüstert Mexi und will den Raum verlassen. „Ist schon okay.", flüstere ich zurück. Er lächelt mich an und schaut zu Boden. „Schläft sie noch?", frage ich in meinem leisteten Flüsterton und deute mit dem Finger auf das Bett unter mir hin, auf welchem Maya liegt. Mexi zuckt mit den Schultern, legt seinen Finger auf die Lippen und schaut zu Daniel, welcher in der Tür zwischen Zimmer und Flur steht. Wir lauschen und hören Maya entspannt atmen, was ein Indiz dafür sein könnte, dass sie tief und fest schläft. Daniel geht in den Flur, wo mittlerweile wieder Licht brennt, und verschließt die Tür hinter sich, während Mexi mich stumm und mit Zwischensprache versucht zu fragen, ob ich mit den beiden mitgehen möchte. Wahrscheinlich wollen sie in den Aufenthaltsraum.
Ich nicke und versuche, so leise wie möglich die Leiter hinunter zu klettern, bis mir auffällt, dass ich nur mit Unterwäsche bekleidet bin. Mexi entweicht ein leises „Oh!" und dreht sich um. Er flüstert etwas, doch ich verstehe ihn nicht. „Was sagtest du?", flüstere ich so leise wie möglich. „Ob ich rausgehen soll, während du dich umziehst?", wiederholt er, doch in diesem Moment habe ich mir schon längst Pulli und Hose angezogen.
Wir schauen zu Maya.
„Sie hat diese Nacht kaum bis gar nicht geschlafen, wir sollten sie besser lassen.", flüstere ich Mexi zu und wir verlassen gemeinsam das Zimmer.

„Sorry.", kichere ich mit einem Hauch Verlegenheit. „Was denn?", fragt Mexi. „Weil ich eben nichts anhatte." - „Ist kein Problem.", lacht er und schaut ebenfalls verlegen auf seine Füße während wir nebeneinander durch den Flur laufen. „In der Kantine gibt's abgepackte Sandwiches für alle.", fährt er fort woraufhin ich vorschlage, dass wir uns welche holen und uns ins Foyer setzen.
Er willigt ein, diesmal nehmen wir die Treppen statt des Fahrstuhls. In der Kantine holen wir uns die Sandwiches und setzen uns auf die Couch am Eingang des Foyers. Mexi erzählt mir, dass Daniel gerade damit beschäftigt ist, die ganzen Geburtstagsgrüße zu beantworten und telefoniert mit seinen Freunden, welche er heute eigentlich gesehen hätte. Es habe sich herauskristallisiert, dass ursprünglich eine Überraschungsparty für ihn geplant war.
„Mist.", antworte ich, als mir Mexi erzählt, wie enttäuscht Daniel darüber ist. „Mir tut das auch verdammt leid für ihn.", erwidert er.
Die Sandwiches schmecken ganz okay und während wir essen und uns ein wenig unterhalten, beobachten wir Frau Baranow, welche sich immer noch bemüht, telefonisch zu klären, wie es weitergehen könnte.
„War ein schöner Abend gestern.", werfe ich ein. „Ja, total! Ihr seid echt alle voll cool, normalerweise bin ich total schüchtern wenn es darum geht, neue Leute kennenzulernen. Aber dadurch, dass wir alle quasi in demselben Boot sitzen, hat es sich direkt vertraut angefühlt."
Er spricht mir aus der Seele. Ich mag Mexi. Ich mag seine Art, seine Ehrlichkeit, seine Bodenständigkeit. Anschließend frage ich ihn zu den Plänen, welche er mit Julien Bam bezüglich der Videos hatte und wann genau sein Flug gehen würde. Er erklärt mir sein Vorhaben, was nach einem großartigen Mix aus Arbeit und Spaß klingt. „Viele Youtuber oder Streamer sind meine Freunde, dadurch macht es total Spaß. Sowohl in Deutschland als auch auf Madeira.", erklärt er mir. Zwischendurch schauen wir uns an, mal länger, mal kürzer und ich frage mich, was er denkt, wenn wir uns gegenseitig in die Augen schauen. Ich fühle mich wohl und unsicher zugleich. Die Tatsache, dass es vielleicht die letzte Nacht sein könnte, in der wir uns alle sehen in dieser Konstellation sehen, stimmt mich nachdenklich und ich wünsche mir sehnlichst, dass diese drei Menschen, Mexi, Maya und Daniel, meine Freunde werden. Wir alle in der Großstadt. Eine neue Freundschaftsbasis.. oder mehr?
Die Zeit vergeht, wir drehen eine Runde durch das Hostel und bleiben ständig an den Fenstern stehen und versuchen dadurch etwas das Außengelände des Hostels zu erkunden. Letztendlich zieht es uns zurück in den Aufenthaltsraum und wenig später kommt auch Maya zu uns. Mexi und ich sitzen auf dem Sofa und sie setzt sich links neben uns auf einen Sessel. Sie wirkt etwas angespannt. In dem Moment, in dem Mexi sich bei ihr erkundigen möchte, ob alles in Ordnung sei, kommen Daniel und ein unbekanntes Gesicht in den Raum.
„Hallo!" Neben Daniel steht ein Mann, ich schätze ihn auf Mayas oder Mexis Alter. Er ist groß und sieht ebenfalls sportlich aus wie Daniel. Vielleicht spielt er auch Fußball, die beiden scheinen sich jedenfalls gut zu kennen. Mexi und ich begrüßen ihn und tauschen für einen kurzen Moment verwirrte Blicke aus. Wer ist das und wo kommt er plötzlich her? Im Bus kann er nicht mit uns gesessen haben, jedenfalls habe ich ihn dort nie gesehen. „So Leute, das ist mein Cousin Simon. Er kommt um uns mit seinem Auto abzuholen, na was sagt ihr?" Ich schau zu Maya, welche anscheinend bereits davon wusste, dass Daniels Cousin hier im Hostel ist. „Es war nicht geplant, dass er kommt.", erklärt sie mir. „Ja, Simon hat mich überrascht.", freut sich Daniel.

Mexi äußert sich zunächst nicht, ich hingegen habe eine klare Meinung zu der Sache, welche ich voller Besorgnis äußern muss.
„Leute..das ist verdammt gefährlich. Es wird bald dunkel, die Straßen sind nur teilweise befahrbar, es nieselt und die Strecke ist auch einfach viel zu weit.", ermahne ich.
„Aber mein Cousin ist den ganzen Weg hergefahren, soll er jetzt allein zurück?" - „Er hätte gar nicht kommen dürfen!" - „Er sagte, die Strecke war voll in Ordnung, sonst hätte er es auch nicht gemacht.", argumentiert Daniel. Meine Blicke fahren zu Mexi und Maya, welche den Anschein machen, als würden sie ebenfalls die Mitfahrt in Erwägung ziehen. Beide haben Termine, die sie dringend einhalten müssen, jedoch verspüre ich ein unangenehmes Bauchgefühl was die ganze Sache betrifft. „Seid ihr dabei?", fragt Simon leicht ungeduldig. Mexi zuckt mit den Schultern und nickt leicht, wirkt jedoch noch etwas unsicher.

Nein. Bitte, bitte, bitte tu es nicht.

Mein Entsetzen macht sich bemerkbar und Mexi stellt einige Fragen. Er, Simon und Daniel diskutieren gemeinsam. Nun wandert mein Blick zu Maya, welche der Unterhaltung aufmerksam folgt.
Ich mustere sie: Ihre kupferroten langen Haare trägt sie heute in einem lockeren Pferdeschwanz, ihren dezenten Pony hat sie sich aus dem Gesicht gekämmt. Sie hat tiefblaue Augen und einen leichten Hügel auf ihrer Nase. Damals im Bus ist mir gar nicht aufgefallen, dass sie so ein außergewöhnliches und schönes Gesicht hat. Ihre Statur ist beneidenswert schlank und einfach genau richtig. Ich frage mich, ob sie auch Sport macht wie Mexi und Daniel. Sie trägt eine dunkelblaue high-waisted Jeans und eine langärmelige, rotbräunliche Bluse mit einem Muster, welches einer Tapete aus den 60ern ähnelt. Und dieses Aussehen, ihre Persönlichkeit und das, was ich bisher von ihr kenne, zeigt mir, was ich gerne wäre. Ich wäre gerne sie. Und ich will nicht, dass sie mit Daniel und seinem Cousin mitfährt.
Sie schaut zu mir und sieht mein besorgtes Gesicht. „Komm schon, Anea.", flüstert sie. „Nein, ich werde nicht mitfahren und ich will auch nicht, dass ihr mitfahrt. Keiner von euch!", sage ich laut. Alle Blicke sind auf mich gerichtet.

Ich will nicht, dass sie fahren. Ich will meine Freunde dieser gefährlichen Situation nicht aussetzen lassen, ich will dass sie bleiben. Ich will dass sie bleiben, weil ich sie gern habe. Ich will dass sie bleiben, weil es einen Grund hat, dass sie hier sind. Ich will, dass sie bleiben, weil das die besten 22 Stunden seit sehr langer Zeit für mich waren. Ich will alle besser kennenlernen, mehr Zeit mit Maya und Daniel verbringen, Mexi besser kennenlernen bevor er wieder das Land verlässt. Ich will ihn nicht gehen lassen, ich will niemanden gehen lassen.

Silver Warmth ~ MexifyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt