Abschiedsstimmung

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· Drei Jahre zuvor ·

»Kaoru! Jetzt warte doch mal« rief Kojiro vielleicht etwas zu laut durch die leeren Straßen, während sein Freund mit dem Board den Asphalt hinuntersauste und dabei heute nicht ganz gewollte, aber dafür umso gefährlichere Schlangenlinien hinlegte.

»Warten? Worauf? Dass du noch langsamer wirst?!« antwortete Kaoru lachend und warf Kojiro dabei einen provozierenden Blick über die Schulter zu. Normalerweise hätte er sich von diesen Worten bestimmt zu einem Wettrennen anstacheln lassen und sie nicht einfach so auf sich sitzen lassen, doch in diesem Moment stockte ihm nur kurzzeitig der Atem, als Kaoru gerade noch so die nächste Kurve packte und dann weiter bergab jagte.

Verdammt, sie hatten ihm eindeutig zu viel Alkohol gegeben!

»Der bringt sich noch um...« grummelte er wütend und legte nun auch an Tempo zu. Besser er holte ihn ein, um schlimmeres zu verhindern.

Also ging er etwas in die Knie und beugte sich nach vorne. Die Häuser rechts und links rasten immer schneller an ihm vorbei, doch schenkte er ihnen kaum Beachtung. Sein Fokus lag auf Kaoru, der mit einem ausgelassenen Lachen auf den Lippen die nächste Kurve mitnahm und anschließend direkt auf eine Treppe zusteuerte. Kojiro sah ihn schon eben diese Treppe hinunterstürzen, als der Blick des anderen kurzzeitig fokussierter wurde, er in die Knie ging und absprang. Ein Strahlen legte sich auf sein Gesicht, die langen Haare wirbelten durch die Luft, während er gleichzeitig die Arme hob und dann mit seinem Bord wieder aufsetzte, das Gelände der Treppe hinunterglitt und sicher am anderen Ende auf dem Boden landete.

Fasziniert und baff zugleich verfolgte Kojiro diesen wahnsinnigen Sprung, spürte wie sich ganz plötzlich ein seltsames Kribbeln in seiner Brust breit machte und sein Herz ein wenig schneller schlug.

Wunderschö-

»Wahhhh!«. Seine Gedanken wurden unterbrochen, ein lautes Poltern zog ihm den Boden unter den Füßen weg und seine Welt begann sich zu drehen, während er haltlos die Treppe hinunterpurzelte, auf die er gerade ungebremst zugefahren war.

»Kojiro!«.

Erschrocken stoppte Kaoru sein Board, beförderte es mit einem Tritt nach oben in seine Hände und lief dann zu seinem gestützten Freund rüber.

»Hey, ist alles in Ordnung? Hast du dir wehgetan?« fragte er nach, während sich der andere stöhnend den Kopf rieb. Prüfend tastete er anschließend seinen Körper ab, doch wie durch ein Wunder schien noch alles an Ort und Stelle zu sein, abgesehen von ein paar Schürfwunden auf Händen und Knien.

»Alles gut...« murmelte er noch etwas neben sich und sah sich nach seinem Board um, welches verwaist ein paar Meter von ihnen entfernt lag.

»Man, passt doch auf, du Trottel!« meckerte Kaoru nun, wo der erste Schock vorüber war. »Du kannst doch nicht einfach so die Treppe runterfahren, ist da oben überhaupt irgendetwas drin!?« fragte er aufgebracht nach und verpasste ihm dabei eine Kopfnuss.

»Au, lass das, du Idiot! Der tut schon genug weh!«.

»Ich dachte, es ist alles gut?«.

»Ist es ja auch, aber das heißt noch lange nicht, dass mir nichts wehtut oder glaubst du etwa, so ein Sturz macht mir gar nichts aus?«.

»Pfff, was weiß ich. Deswegen habe ich ja nachgefragt« grummelte Kaoru und richtete sich eingeschnappt auf.

Wütend starrten sie sich eine Weile an und warfen sich gegenseitig giftige Blicke zu, bevor Kaoru schließlich genervt etwas Luft ausstieß und ihm seine Hand hinhielt.

»Lass uns heute nicht streiten...« murmelte er und sah grummelnd in eine andere Richtung.

Etwas irritiert starrte Kojiro auf die Hand, bevor sich schließlich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete und er nach ihr griff, um sich hochziehen zu lassen.

»Ok... heute nicht...« nickte er.

Er klopfte sich den Staub von der Kleidung und ging dann zu seinem Board rüber, um es einzusammeln, bemerkte dabei erst, dass sie an ihrem üblichen Skateplatz angekommen waren.

Kaoru schwang sich wieder auf sein Board und fuhr noch ein Stückchen bis zu dem kleinen Aussichtspunkt, von dem aus man einen guten Blick über die Stadt hatte.

»Schau, die Sonne geht bald auf« meinte er und lehnte sich mit den Unterarmen auf der kalten Eisenbrüstung ab. Eine ganze Weile sah er schweigend über die schlafende Stadt, während sich Kojiro zu ihm gesellte und seinem Blick folgte. »Wie viele Stunden sind es jetzt noch?«.

»Hm... mein Flug geht heute Nachmittag. Um 16 Uhr muss ich am Flughafen sein... etwas Zeit bleibt also noch« erwiderte Kojiro mit einem schwachen Lächeln und schaute zu seinem Freund rüber. Irgendwie fühlte es sich seltsam an, dass er wirklich heute noch das Land verlassen und wahrscheinlich erst in ein paar Jahren zurückkehren würde.

»Dann... hättest du doch noch länger auf deiner Abschiedsparty bleiben können« meinte Kaoru, während er die Aussicht in sich aufsog und tief die frische Morgenluft einatmete.

»Hätte ich«.

»Aber?«.

»Nichts aber... ich bin doch hier, oder?« meinte Kojiro nur und beobachtete wie eine etwas kräftige Windböe die langen rosafarbenen Haare erfasste, sie ein wenig herumwirbelte und mit ihnen spielte. Eine zarte Gänsehaut bildete sich auf Kaorus Armen und ließ ihn leicht frösteln.

»Ist dir kalt?«.

»Geht schon...«.

»Hm...« murmelte Kojiro wenig überzeugt und streifte kurzerhand seine Jacke ab, um sie über Kaorus Schultern zu werfen.

»Ich sagte, es geht schon... was soll ich mit dieser riesigen Jacke... dass sieht doch total bescheuert aus!« protestiere dieser sofort.

»Blödsinn, das sieht nicht bescheuert aus« widersprach Kojiro. »Sei nicht immer so eitel. Du siehst süß damit aus« entkam es ihm dann.

Shit, hatte er das wirklich gerade laut gesagt?!

»Du findest, ich sehe süß aus?« lachte Kaoru und schaute nun zu ihm rüber. »Bist du etwa in mich verknallt?«.

»W-was?« fragte Kojiro überrumpelt nach, wobei er wohl ziemlich blöd aus der Wäsche schaute, denn Kaorus Lachen wurde gleich noch eine Spur herzhafter.

»Das war doch nur ein Scherz, du Dummkopf« meinte er grinsend und schaute wieder nach vorne, während sich seine Finger in den Stoff von Kojiros Jacke gruben und sie noch etwas weiter über seine Schultern zogen.

»U-uhm... natürlich...« murmelte Kojiro und stützte sich nun auch auf dem Geländer ab, beobachtete den kleinen orangefarbenen Punkt am Horizont, der den Sonnenaufgang ankündigte.

Morgen um diese Zeit würde er wohl in Italien angekommen sein und schon in ein paar Tagen mit seiner Ausbildung als Koch beginnen. Seit Monaten konnte er diesen Moment kaum noch abwarten, doch nun, wo die Abreise so kurz bevor stand, machte sich doch ein mulmiges Gefühl der Unsicherheit in ihm breit. Seine Freunde hatten heute Abend für ihn die beste Abschiedsparty überhaupt geschmissen und obwohl, oder vielleicht auch gerade weil, sie so eine Menge Spaß gehabt hatten, wurde ihm nun ganz wehmütig zu mute. Er würde sie schrecklich vermissen, da war er sich sicher, doch gleichzeitig war da auch die Neugierde ein neues Land kennenzulernen, neue Erfahrungen zu sammeln und allem voran seiner Leidenschaft dem Kochen nachzugehen.

»Worüber denkst du nach?«.

»Darüber, dass ich euch wohl ziemlich vermissen werde...« antwortete Kojiro ehrlich. Wozu jetzt noch einen falschen Stolz bewahren? Er schaute zu seinem Freund rüber, der seinen Blick mit einem schwachen, fast schon wehmütigen Lächeln erwiderte. Seine Augen glitzerten im Zwielicht und zogen ihn völlig in ihren Bann.

Warum sah er plötzlich so zerbrechlich aus...?

Aus einem Impuls heraus legte Kojiro seine Hand auf Kaorus Wange, spürte wie ein leichtes Zittern durch den Körper des anderen ging, als er sich zu ihm vorbeugte und ihre Lippen zu einem sanften Kuss verband, genau in dem Moment als die ersten Strahlen der Sonne über den Horizont streiften und den Platz um sie herum in ein zartes Licht hüllten.

Kirschblütenregen [MatchaBlossom]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt