Er läuft schnell, so schnell, dass der Schneeregen ihm vorkommt wie eisige Peitschenhiebe und der Wind seinen Mantel um seine Beine wehen lässt wie eine anhängliche Katze, die gestreichelt werden will und nicht locker lässt. Später beißt sie dich. Als er das knarrende Gartentor öffnet, von dem die grüne Farbe abblättert und sich stattdessen Rost ausbreitet, weicht er einer Pfütze aus. "Hallo, Mama! Und, geht's dir heute besser?", fragt er. Er küsst die Frau im Rollstuhl kurz auf die Wange. "Ja, schon viel besser.".
"Frau Woods? Können Sie mich hören?". Licht. Zu viel. "Sehen Sie uns? Frau Woods?". Gleißende Helligkeit, mittendrin verschwommene Gestalten. Ich lasse die Augen geöffnet. Die Linien werden langsam klarer. Ein Mann in weißem Kittel. Ich kenne ihn nicht. Ein Mann, der meine Hand hält. Sie streichelt. Ich kenne ihn nicht. Ich kenne niemanden. Noch nichtmal mich selbst. Wer bin ich? Ich lasse meinen Blick über den Körper wandern, der mir gehört. Ich bin eine Frau, meine Beine sind eingepackt in weißem Gips. Wie sehe ich aus? "Mama!". Wer sagt das? Ich schweife mit meinen Augen (Welche Farbe haben sie?) über den Raum. Die Lippen von dem Mann, der meine Hand hält, bewegen sich. Die Worte kommen verzögert bei mir an. "Hallo, Mama.". Das ist mein Sohn? Ich habe keinen Sohn. Aber woher soll ich das wissen, wenn ich noch nicht einmal weiß, wie ich heiße?
"Wie geht es dir?", fragt mein Sohn.
"Wie heißt du?", frage ich.
Schweigen.
"Christian, Mama. Ich bin dein Sohn Christian."
Christian schiebt Keira zu dem runden Tisch, der in der Mitte des kleinen Holzhauses steht. "Sie haben sich nicht weiter ausgebildet, sind sogar ein bisschen zurückgegangen." sagt sie ruhig. "Schön! Das freut mich. Was möchtest du essen?" Weil es keine Kartoffeln mehr gibt, macht Christian Rührei ohne Bratkartoffeln, obwohl sie danach gebeten hatte. "Sie sollten mehr Gemüse verteilen. Nur von Eiern kann doch kein Mensch leben!", beschwert er sich mit gerunzelter Stirn. Keira lächelt nur. "Sie reichen mir, mein Sohn. Außerdem machst du bessere Rühreier als dein Vater." Ruckartig wendet Christian sich der Frau zu. Kurz spiegelt sich Erschrockenheit in seinen dunklen Augen wider, doch er fasst sich schnell wieder. "Du kannst dich daran erinnern?". "Komisch. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht.", murmelt sie, "Vielleicht habe ich das auch nur so gesagt.". "Bestimmt. Und wenn nicht, dann erinnerst du dich ja bald vielleicht auch an andere Dinge!", sagt Christian begeistert. Er strahlt die Frau an. Als er sich den Eiern zuwendet, die am Boden der gusseisernen Pfanne festgebacken sind, schwindet es und auf seinem Gesicht macht sich ein sorgenvoller Ausdruck breit. 'Mach dir keine Gedanken.', sagt er sich. Doch trotzdem muss er noch Tage später daran denken, was Keira gesagt hat, zu seinem Vater.
Als Keira und er die Eier, die zu trocken geworden sind, aufgegessen haben und die Teller abgewaschen sind, krempelt Christian das weite Hosenbein seiner Mutter hoch. Auf der Haut, übersäht mit Pigmentflecken, ranken sich dünne Linien das Bein Hoch. "Es sind weniger geworden.", bemerkt er. "Habe ich doch gesagt!", erwidert Keira, die ihren Sohn mustert, wie er mit gerunzelter Stirn konzentriert die Striche anschaut. Manchmal, in intimen Momenten zwischen Mutter und Sohn, kommt er ihr so wärmend, so nah vor. Anfangs war er ein Unbekannter, sie hatte sogar daran gezweifelt, dass er ihr Sohn war. Und doch, auch wenn sie sich noch immer fragt, wenn auch immer seltener, wie das eigene Fleisch und Blut einem so fremd werden konnte, vertraut Keira ihm blind. An dunklen Tagen und einsamen Nächten hilft diese Nähe zu ihm ihr, nicht in Selbstmitleid zu versinken. Denn sie wird geliebt, dafür liebt sie sich und ihn. Denn wer nicht lieben kann, nicht einmal sich selbst, der hat nichts.
Keira weiß schon lang, was die Linien auf ihrem Körper bedeuten. Sie wurde nicht geliebt, ihr Leben war leer, ohne Vertrauen und Zärtlichkeit. So wurde es ihr zumindest erzählt, und welche Wahl hat sie, sie muss glauben, was die anderen von der Zeit vor dem Unfall erzählen. Auf ihr eigenes Gedächtnis kann sie sich nicht verlassen, und so muss sie auf das Erinnerungsvermögen und vor allem die Ehrlichkeit der Anderen vertrauen. Anfangs fiel ihr das sehr schwer, doch sie hat gelernt, dass sie keine Alternative hat. Wo sollte sie hin, wenn nicht zu ihrem angeblichen Sohn? Wie sollte sie einen Job finden, wenn sie nichts über sich erzählen konnte, außer das, was die Anderen sagten? Es gab keine andere Möglichkeit, und mittlerweile hinterfragt Keira die Geschichten nicht mehr. Nur eine Frage schwirrt ab und zu in ihrem Kopf herum. Wenn sie vor dem Unfall einen glücklichen Sohn, einen liebenden Mann hatte, wie konnte sie so einsam sein, dass ihr Körper ihr dies mit schwarzen Federstrichen zeigen musste? Sie sagen, sie hätte zu viel gearbeitet. Zu wenig Zeit zum Lieben und geliebt werden gehabt. Aber Keira glaubt nicht daran, dass Erschöpftheit die Liebe bezwingen kann, nein, die Liebe lässt sich nur mit Hass bezwingen.
DU LIEST GERADE
Lügenmantel
Science Fiction2115. Das düstere Leben auf der Erde wird immer trauriger, herzloser, einsamer. Der Kontrolle des Staates ist kein Entkommen möglich, die Bürger sind gefangen im eisernen Griff der Reichen und Mächtigen. So auch Milo. Er ist das Instrument der Regie...