Geheimnisse der Raumfahrt

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Auf der Fahrt nachhause im Taxi kündigte sich am Nachthimmel schon die Dämmerung an. Obwohl er so lange auf den Beinen gewesen war, lag Björn hellwach auf dem Schlafsofa und konnte nicht einschlafen. Durch die Äste des Baums, die sich vor dem Fenster im stürmischen Moskauer Morgenwind bewegten, hätte man die Langsamkeit beobachten können, mit der die Sommermorgen hier anbrachen. In einiger Entfernung wären die Umrisse des riesigen Luschniki Stadiums erkennbar gewesen, das immer noch hell beleuchtet wie ein riesiges Raumschiff am Horizont thronte und von Mbappes Tor im Finalspiel der Fußball WM 2018 träumte. Doch wie schon an den beiden Tagen zuvor galt Björns Aufmerksamkeit allein den Bücherregalen und Schränken, die an allen Wänden im Wohnzimmer vom Boden bis zur Decke reichten. Auf der Couch liegend wanderte sein Blick den Buchrücken entlang, beleuchtet vom frühmorgendlichen Sommerlicht und angezogen von den kyrillischen Buchstaben, die ihn noch vor wenigen Wochen analphabetisch fühlen ließen. Inzwischen schon süchtig danach, die Wörter zu entziffern, las sich sein Blick durch die direkt vor seiner Nase neben der Couch stehenden Titel, wo die belletristische Abteilung angesiedelt zu sein schien.  Stanislav Lem konnte er entziffern, das bereitete ihm schon größte Genugtuung, ebenso Fiasko oder Soljaris und Pilota Pirxa. 

Nur das Fenster war weder von Schränken noch von Regalen verstellt. Davor stand nur ein Schreibtisch, auf dem unterschiedlich hohe Bücher und Papierstapel in die Höhe wuchsen. Auf einem lag Miro, der junge Kater, der sich dort oben sichtlich wohl fühlte. Seit Björn aufgewacht war, musterte die Katze den Eindringling, wobei sein rotes, pelziges Fell von den Sonnenstrahlen in ein fröhlich flackerndes Feuerchen verwandelt wurde. Björn stand auf und wanderte, magnetisch von den Papierstapeln angezogen, zum Schreibtisch. Sein Blick fiel zuerst auf die Zugtickets nach Zvonigorod, der Ort 40 Kilometer westlich von Moskau am Fluss. Dorthin wollten Sviet und Alexandra eigentlich für einige Tag auf Urlaub fahren, was sie aber um eine Woche verschieben hatten müssen. Björn hatte den Grund dafür schon wieder vergessen. Die Zugtickets lagen mitten unter den vielen Blättern, die zwischen den Papiertürmen eine kleine Landschaft aus kyrillischen Buchstaben bildeten. Eingebettet in die Buchstabenlandschaft befanden sich viele Seen aus handschriftlich angefertigten Bleistiftskizzen unterschiedlicher Raumschiffmodelle sowie verschiedener Antriebe.

Die Raumschiffbaupläne erinnerten Björn daran, dass Sviet noch vier Jahre lang eine Ausreisesperre hatte, weil er als Computerspezialist für ein russisches Ministerium gearbeitet hatte. Das hatte ihm Alexandra abends im Papa Vader erzählt. War es das Verteidigungsministerium gewesen, für das Sviet gearbeitet hatte? Björn konnte sich beim besten Willen nicht mehr genau daran erinnern. Nur so viel: Vier Jahre lang noch Ausreisesperre. Die Raumschiffe hätten wohl mehr auf das Raumfahrtministerium hingedeutet. Aber gab es dafür überhaupt ein eigenes? Björns Gedankengänge, wie immer von seiner inneren Stimme in der richtigen Tonlage vorgetragen, wurden von dem vorwurfsvollen Blick des kleinen Katers unterbrochen, dessen Augen den Eindringling eindringlich musterten. Er fühlte sich ertappt. Demonstrativ aus dem Fenster blickend blieb er dennoch vor dem Schreibtisch stehen und hoffte so, den wachsamen Kater besänftigen und hinters Licht führen zu können. Am Horizont war immer noch kein Raumschiff gelandet, sondern das Luschniki Stadion stand weiterhin an seinem Platz, inzwischen nicht mehr in Blau und Rot beleuchtet.

Bewachte der Kater Sviets offen auf dem Schreibtisch ausgebreitete Notizen? fragte Björns Stimme die nahliegende und zugleich abwegige Frage, wobei die Stimme am Ende des Satzes besonders weit nach oben ging, um den Fragecharakter zu unterstreichen. Doch das schlechte Gewissen, das der Kater mit seinem Blick offenbar auslösen konnte, war eine zu schwache Waffe. Björns Blicke wurden von neuem von den Bleistiftskizzen anzogen. Gehörten sie zu geheimen Bauplänen für Raumschiffe? Befanden sich darunter gar streng geheime Anleitungen für den Bau eines solarbetriebenen Raumschiffs, mit dem die Russen ihre Vorherrschaft über den Weltraum zurückerobern wollten? Oder verstand Björn einfach nur viel zu wenig davon und bildete er sich das nur ein? Lächerlich, beruhigte ihn seine innere Stimme mit routinierter Stimmlage, diese Skizzen lägen doch nicht offen verstreut auf dem Schreibtisch herum, während Sviet Besuch aus dem Ausland hatte. „Don't tell Sviet about this!" zischte der rote Kater, wobei sich seine Stimme täuschend ähnlich wie die von Alexandra anhörte. Oder war es diejnige von Marjia, ihrer Freundin, die ihm die Solnitchnaja Zigaretten geschenkt hatte, weil es Björn nicht gelungen war, im Supermarkt welche zu kaufen. Jedenfalls war es eine weibliche Stimme... Darüber nachdenkend, was ihm der Kater mit diesen Worten überhaupt sagen wollte, erblickte Björn nun vor sich auf dem Schreibtisch eine riesengroße, englischsprechende Sphinx, in die sich die Katze offenbar verwandelt hatte. Plötzlich krachte ein riesiger Vorschlaghammer neben ihm auf dem Boden nieder. 

Papa VaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt