Den restlichen Vormittag verbrachte Emma in der Schule und bastelte mit den drei Kindern (vier, wenn man Titus mitzählte) Laternen für das Lichterfest.
Zunächst hatte sie geglaubt, Jonas müsste draußen im Fluss zurückbleiben, doch es stellte sich heraus, dass die Schule, genau wie die darüber liegende Wohnung, Meermann-gerecht ausgestattet war. Ein schmaler Flussarm führte durch einen Tunnel ins Innere des Hauses und von dort direkt in eines der beiden Klassenzimmer. Durch ein Schleusensystem, wie Emma es aus der Schifffahrt kannte, konnte Jonas ins obere Stockwerk gelangen. Dort wohnte er in einer Art Fischtank, der mit allerlei Spielzeug, Plastikmöbeln und einer großen Schlaf-Muschel ausgestattet war. Die ganze Konstruktion war von Derrick und Nori ersonnen worden.
Da Emma neu auf der Morgenwind war, genossen es die Kinder, sie herumzuführen und mit allen Besonderheiten ihres Zusammenlebens vertraut zu machen. Penny zeigte ihr die Flügelschoner, die sie nachts überziehen musste, damit ihre filigranen Flügel nicht zerknickten. Anders als Titus war sie zumindest dazu in der Lage, über dem Boden zu schweben, was man ihr aber im Innern des Hauses streng verboten hatte.
Kichernd zeigten die Kinder Emma auch das Schlafzimmer ihrer beiden Väter. Laurents Seite des gemeinsamen Bettes war mit Fellen überhäuft. Angeblich, weil es die Anwesenheit anderer Wölfe simulierte und ihm auf diese Weise beim Einschlafen half. Joseph hatte ein Hörgerät auf seinem Nachttisch liegen, das er aber, nach Angabe der Kinder, nie benutzte. Darüber hinaus erfuhr Emma, dass es außer Jonas, Penny und Finka noch andere Kinder auf der Morgenwind gab. Im Moment waren es ganze zwölf Kinder zwischen vier und vierzehn Jahren, die mit ihnen zusammen die Schule besuchten.
Hier wurden sie von Laurent in allen grundlegenden Dingen unterrichtet: Lesen, Schreiben, Rechnen, Biologie, Hausarbeit und Handwerk. Sie trieben gemeinsam Sport und unternahmen lehrreiche Ausflüge. Darüber hinaus kamen immer wieder andere Stadtbewohner vorbei, um sie in speziellen Fächern zu unterrichten. Miragel lehrte sie Pflanzenkunde und Geschichte, Savannah gab ihnen Kochunterricht, Derrick unterrichtete sie in Technologie und Physik, Anoushka in Chemie, Lusine war ihre Literaturlehrerin und Sebastian kümmerte sich um ihre religiöse und moralische Erziehung. Laut Titus kamen sogar Masumi und Kilian ab und zu vorbei. Von Masumi lernten die Kinder Selbstverteidigung und von Kilian Reiten und Schwertkampf.
Während sie den Erzählungen der Kinder lauschte, hatte Emma das Gefühl, selbst gern noch einmal mit ihnen zur Schule gehen zu wollen. Ihre eigene Schulzeit hatte sie in schlechter Erinnerung. In der Grundschule war sie noch eine ganz gewöhnliche, absolut durchschnittliche und unauffällige Schülerin gewesen, doch mit dem Gymnasium waren auch die Probleme gekommen. Sie hatte damit begonnen, die Schule zu schwänzen, zu rauchen und sich ganz allgemein daneben zu benehmen. Inzwischen wusste Emma, dass der Auszug ihres Vaters und die neue Liebe ihrer Mutter der Grund für den Absturz gewesen waren.
Erst mit Beginn der zehnten Klasse hatte sich ihr Verhalten wieder gebessert. Sie war zwar noch immer als Enfant terrible verschrien, sowohl bei ihren Mitschülern als auch bei den Lehrern, doch mit ihren Noten war es wieder bergauf gegangen. Einer der Gründe für diese Verbesserung war wohl auch der Auszug ihres Stiefvaters aus der gemeinsamen Wohnung. Für eine Weile war es ihr und ihrer schulischen Karriere ziemlich gut ergangen. Doch dann, kein Jahr vor ihrem Abschluss, war ihre Mutter schwer erkrankt. Von da an hatte sie sich neben der Schule auch noch um den Haushalt und um ihre kleine Schwester kümmern müssen. Das Abitur hatte sie deswegen nur gerade so geschafft. Trotzdem hatte sie geplant, so schnell wie möglich ein Studium zu beginnen. Doch wieder hatte ihr die Familie einen Strich durch die Rechnung gemacht. So war sie in der Boutique gelandet, wo Kilian und die Anderen sie gefunden hatten.
»Es tut mir leid, dass ich vorhin so ungehalten reagiert habe«, meinte Titus plötzlich, als sie in den Nebenraum gingen, um nach Klebstoff zu suchen.
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Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]
FantasyDie 25-jährige Emma arbeitet in einer Boutique, kümmert sich um ihre kranke Mutter und hat die Hoffnung auf echte Liebe und Abenteuer längst aufgegeben. Doch dann begegnet sie dem geheimnisvollen Baron von Morgen. Von bösartigen Maschinenwesen verfo...