Auf ihrem Rückweg zum Schloss wehte Emma ein kalter Wind entgegen. Ein Unwetter schien sich über der Morgenwind zusammenzubrauen. Dunkle Wolken türmten sich am Himmel auf. Emma wusste nicht, wie man diesen Wolkentyp nannte, aber sie hätte ihn Monstrocumulus getauft, wenn es an ihr gewesen wäre, einen Namen dafür zu finden.
Zu ihrer Überraschung fand Emma den Baron nicht im Bett, sondern im Ballsaal des Schlosses vor, wo er sich von Bewohner zu Bewohner schleppte, um jedem seinen Dank auszusprechen und Zuversicht zu verbreiten. Er tat dies ganz offensichtlich im Angesicht großer, kaum zu ertragender Schmerzen, die er bis auf ein gelegentliches Zittern oder Zucken gut zu verbergen wusste. Wenn ihm das Reden zu anstrengend wurde, ließ er seine Untertanen zu Wort kommen, und wenn er sich nicht mehr fortbewegen konnte, stützte er sich unauffällig an einem Tisch oder Stuhl ab. Kamilla und Miragel wichen ihm nicht von der Seite und belauerten jede seiner Bewegungen, als erwarteten sie, dass er jederzeit ohnmächtig werden könnte. Vermutlich stimmte das sogar.
Ungeduldig wartete Emma darauf, dass er seine Runde durch den Saal beendete, doch Kilian ließ sich Zeit – und je mehr Schmerzen er hatte, desto mehr Zeit ließ er sich.
»Was ist denn los?«, fragte Derrick und glitt mehr oder weniger lautlos an ihre Seite. »Du siehst ja aus, als hättest du dir in die Hose gemacht.«
Emma schürzte die Lippen. »Keine Sorge. Falls es soweit kommt, erfährst du es als Erster.« Sie verdrehte über ihren eigenen dummen Spruch die Augen und musterte Derrick, dessen linkes Auge von einem frischen Veilchen geziert wurde. »Was ist denn mit dir passiert?« Ihr Blick wanderte zu Rasputin, der mit Derrick den Saal betreten hatte, aber im Gegensatz zu Derrick frisch und ausgeruht, satt und zufrieden wirkte. »War er das?«
Derrick winkte ab. »Nein. Wir hatten ein wenig Ärger mit einem der Zuhälter. Wäre Rasputin nicht gewesen, hätte es mich wohl noch schlimmer erwischt.«
»Aber was ist denn passiert?«, wollte Emma wissen.
»Das glaubt mir eh keiner«, erwiderte Derrick, aber dann erzählte er es trotzdem. »Die Damen und Herren aus dem horizontalen Gewerbe haben sich geweigert, Bezahlung anzunehmen. Das wiederum hat ihren Zuhältern gar nicht gefallen.«
»Sie haben sich geweigert, Bezahlung anzunehmen?«, echote Emma wenig geistreich.
Derrick schielte zu Rasputin und fuhr im Flüsterton fort: »Ich weiß nicht, wie er das macht, aber seine Dienstleister waren derart beglückt, dass sie der Meinung waren, ihn für seinen Einsatz entlohnen zu müssen.« Er rieb sich die Nasenwurzel. »Jedenfalls ... ein Wort ergab das andere. Rasputin war nicht besonders kooperativ. Und Schwupps ... befinde ich mich mit mitten in einer Prügelei mit einem Pavian im lila Lycra-Hemd und fetten Goldringen an jedem Finger.«
Emma bemühte sich, nicht zu lachen. »Und dann?«
Derrick bedeutete Emma, ihn anzusehen. »Sehe ich für dich vielleicht aus wie jemand, der sich gern prügelt? Diese Halbaffen hätten mir alle Zähne ausgeschlagen, wenn Rasputin nicht gewesen wäre. Er hat ihnen demonstriert, was sie in der Hölle erwartet, wenn sie weiterhin so wenig kundenorientiert arbeiten. Danach haben wir uns aus dem Staub gemacht.«
»Tut mir echt leid, dass das so blöd gelaufen ist«, meinte Emma und sah zu Kilian, der sich zu Finka und Penny gekniet hatte, damit sie ihm ihre Ängste anvertrauen konnten. Seine Nähe ließ die sonst so vorlaute Penny ganz schüchtern werden. Unruhig scharrte sie mit dem Fuß und knetete ihre Finger.
Während Finka dem Baron etwas ins Ohr flüsterte, trafen sich Kilians und Emmas Blicke. Sie versuchte, ihm zu signalisieren, dass sie etwas Wichtiges miteinander zu besprechen hatten. Daraufhin lächelte er und nickte ihr unauffällig zu.
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Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]
FantasyDie 25-jährige Emma arbeitet in einer Boutique, kümmert sich um ihre kranke Mutter und hat die Hoffnung auf echte Liebe und Abenteuer längst aufgegeben. Doch dann begegnet sie dem geheimnisvollen Baron von Morgen. Von bösartigen Maschinenwesen verfo...